In den letzten Jahren hat Augusto Boal seine Methoden regelmässig weiterentwickelt: War der „Polizist im Kopf“ noch hauptsächlich zur Heilung von Autoritäts- und Erziehungsschäden gedacht, geht der „Regenbogen der Wünsche“ in seinen verschiedenen Versionen und Übungen zwar in die psychologische Tiefe des Charakters, aber nicht um eine Person zu therapieren, sondern um die Komplexität unseres gesellschaftlichen und politischen Verhaltens wieder für die Bühne sichtbar zu machen.

In unserer Anwendung im deutschsprachigen Raum) sind die ersten Methoden, das Statuen- und Forum-Theater, Zeitungs-Theater und unsichtbares Theater sowie die Grundformen des „Polizisten im Kopf“ und des „Regenbogen der Wünsche“ bei Fachleuten bekannt, aber noch nicht im gesamten pädagogischen und schau­spielerischen Bereich wirklich genutzt.

Dabei könnten diese Methoden ein wichtiger Beitrag zur Erneuerung der Pädagogik an unseren Schulen und in den Fortbildungen werden: In unserer Erziehung haben die Wenigsten eine wirklich demokratische und gleichberechtigte Pädagogik kennen­gelernt, wie sie Paulo Freire mit der Pädagogik der Unterdrückten definiert hatte.

Wie sich im Aufbruch der 60er Jahre in Brasilien das Theater von Agit-Prop zu simultaner Regie wandelte, in der die Zuschauenden im Dialog mit dem Spielleiter das Stück der Schauspieler verändern konnten, wurde auf den Impuls einer sehr beeindruckenden Frau ) daraus das Forum-Theater, in dem jemand aus dem Publikum selbst eine andere Lösung spielen kann. Die heutige Anwendung überrascht noch immer die meisten Zusehenden durch ihre Intensität, weckt aber im nordeuropäischen Raum viele Ängste.

Die Anwendung von Theatermethoden in der Erwachsenen-Alfabetisierung in verschiedenen südamerikanischen Ländern brachte eine Weiterentwicklung zu entsprechenden Techniken:

Statuen- und Bilder-Theater machen eine Situation in ähnlichen Schritten durchsichtig, wie die Silben-Arbeit bei Freire’s Wort- und Schreib-Lern-Technik. Der gleiche Effekt wäre für eine Bewußtseinsbildung in unserer verwirrten Konsumkultur hilfreich. Vor allem im Bereich des Sprach- und Kulturlernens könnte ich mir eine Anwendung des gegenseitigen Lebensfeld-Austausches sehr gut vorstellen, leider kenne ich noch keine direkte Art des Portugiesisch-Unterrichts in meinem Umfeld.

Zentral ist bei den beiden Freunden) der Ansatz an den Themen der Teilnehmenden, die jeweils den Inhalt des gemeinsamen Lernens prägen. Entsprechend geht es bei unserer Arbeit um die europäischen Modelle der Unterdrückung: Sie findet weniger offensichtlich, aber weit hinterhältiger in Erziehung, Tabuisierung und Psyche statt. Diese Hintergründe sind notwendig, um kulturelle Mißverständnisse und Brüche zu verstehen und zu vermeiden.

Angstfreie und gleichberechtigte Situation und Atmosphäre ist die Grundbedingung für ein Lernen an den Tabubereichen, wovor unsere herkömmliche Pädagogik deswegen regelmässig zurückschrecken muß.

Als neue Form entwickelt Boal nun in seiner neuen brasilianischen Zeit in Rio das „Legislative Theater“: Nach den einladenden Versprechungen bekam seine Gruppe dort lange Zeit keine ausreichende Unterstützung, bis sie in den Wahlkampf für die Arbeiterpartei eingriffen. Was zuerst zur Durchsetzung und Finanzierung von Räumen gedacht war, endete mit der Kandidatur und einem Mandat Augusto Boals zum Ratsherrn Rio de Janeiro’s, als der er 25 Personen in seinem „Kabinett“ anstellen konnte, mit denen er nun seine neueste Theaterform umsetzt:

Das Legislative Theater geht mit den Fragestellungen des Rathauses in die Wohnviertel, diskutiert sie mit Hilfe der Theatermethoden und bringt die Ergebnisse der Theater- und Spiel-Dialoge in Gesetzgebung und Verwaltung zurück. Aufgrund der elementaren Sprache des Theaters ist das auch mit Straßenkindern und Prostituierten möglich, sogar mit anderen Ratsherren, denen Augusto auf den (typisch brasilianischen) Vorwurf in der gegnerischen Presse, mit dem Teufel im Bunde zu stehen, auch den ‚Leibhaftigen‘ ins Rathaus mitbrachte.

Zu unseren europäischen Fortbildungen bringt er vor allem sein analytisches Denken mit, das auch in etliche Literatur gefaßt wurde, wovon leider noch sehr wenig in deutscher Sprache, mehr in französisch und englisch erschienen ist. Dabei stammt sein Ansatz durchaus aus der deutschen Tradition: In Südamerika war Boal für seine Brecht-Adaption in den dortigen Lebenskontext bekannt, nachdem die deutschen Exilanten dort Brecht immer noch im „Berliner Milieu“ inszeniert hatten.

Der Brecht’sche Ansatz wird in unserem Land gerade erst wiederentdeckt, nachdem ihn allzu eifrige Deutschlehrer und Regisseure über die Jahre eher belastet hatten: Was die Einen als Lehrstücke zur BE-Lehrung verwendeten, mißbrauchten andere zur Stilpflege, nur wenige nutzten den analytischen Arbeitsstil zur Ausbildung und zur Weiterentwicklung des Theaters in heutige Theaterarbeit: Was sich als Workshop-Kultur und Fortbildung etabliert hat, wird in manchen Landstrichen schon in Schule und Ausbildung aufgenommen, nur Bayern hängt in dieser Hinsicht nach.

Mit dem entwicklungsdienst theater – methoden in der Paulo-Freire-Gesellschaft) bieten wir regelmässig Einführungsseminare und Fortbildungen an, für das Institut für Jugendarbeit des Bayrischen Jugendrings in Gauting haben wir eine dreiteilige Fortbildung stop!tabu entwickelt, die vielleicht bald wieder angeboten wird. Im Oktober ’95 wird Augusto Boal dort eine Werkstatt anbieten. Begleitend kommt vielleicht eine Tagung für TheaterpädagogInnen im südeuropäischen Raum zustande, die auch für Interessierte die verschiedenen Arbeitsansätze der Einzelnen sichtbar und vergleichbar machen kann.

Eine Fortbildung wird es schon anfang September mit dem Deutschen Institut in Florenz in der Toscana geben: Das Theater Rechts der Isar) bietet zwei Wochen „The Rainbow of Desire“, vierzehn psychotherapeutische Techniken für SchauspielerInnen an. Eine ganze Serie zum Polizisten im Kopf mit deutschen KollegInnen wird es ab Dezember im Kreativhaus in Berlin geben, die Planungen für den münchner Raum sind noch nicht so weit.

Bei der Linzer Friedenswoche ’95 wurde Boal in eine Reihe mit Mikis Theodorakis und Ernesto Cardenal gestellt. Damit er für die Bewußtseinsbildung auch an unseren Schulen und bei unseren Bildungsträgern tatsächlich eine entsprechende Signalwirkung bekommt, braucht es noch mehr mutige PädagogInnen, die den Einstieg in den gleichberechtigten Dialog wagen und den Mut zur Freiheit einer echten Partnerschaft mit den Lernenden eingehen. Das löst nicht den jeweiligen Beruf auf, sondern die Berufskrankheiten.

Literatur: Zur Pädagogik der Unterdrückten:
Paulo Freire: Pädagogik der Unterdrückten, rororo TB Hamburg 1973
Joachim Dabisch und Heinz Schulze: Befreiung und Menschlichkeit, Texte zu Paulo Freire, AG SPAK
Zeitschrift für befreiende Pädagogik der Paulo-Freire-Gesellschaft, über das Büro der AG SPAK, Adlzreiterstr. 23, 80337 München (20.-/Jahr) 4 Ausgaben
Im Heft 3/4 1994: Fritz Letsch: Reale Theaterarbeit in sozialen und pädagogischen Berufen und andere Artikel zum Theater der Unterdrückten
Zum Theater der Unterdrückten:
Augusto Boal: Theater der Unterdrückten, Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler SUHRKAMP-TB NF 361, Frankfurt 1979 +1989
in englisch: Games for Actors and Non-Actors,
und neu: The Rainbow of Desire, (…) Rootlegde, London
Daniel Feldhendler: Psychodrama und Theater der Unterdrückten, erweitert, Ffm 92
Bernd Ruping (Hrsg.): „Gebraucht das Theater, Die Vorschläge von Augusto Boal: Erfahrungen, Varianten, Kritik“ bei: Theaterpädagogisches Zentrum Lingen, Universitätsplatz 5-6. oder Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung, Küppelstein 34, Remscheid, 1991
Arbeitsstelle Weltbilder, Agentur für interkulturelle Pädagogik Münster und Schulstelle der AG Bern: Spiel-Räume, ein Werkbuch zum Boal’schen „Theater der Unterdrückten“ Münster/Bern 1993 (südstr. 71b, 48153 münster, 0251-72009 oder Schulstelle, monbijoustr. 31, ch-3001 bern
Simone Neuroth: Augusto Boals „Theater der Unterdrückten in der pädagogischen Praxis, Deutscher Studien Verlag Weinheim 1994 (28.-)
Zur Theaterpädagogik:
Gisela Honens (Freiburg) und Rita Willerding (Kassel): Praxisbuch feministische Theaterpädagogik, Brandes & Apsel, wissen & praxis 43 ffm’92
Gerd Koch: Lernen mit Bert Brecht. Bertolt Brechts politisch-kulturelle Pädagogik, Hamburg 1979
Zeitschrift Korrespondenzen der Gesellschaft für Theaterpädagogik über Prof. Gerd Koch an der Alice-Salomon-FHS, Karl-Schrader-Str. 6, 10781 Berlin (8.-) (in Zus-arb. mit dem Bundesverband)

Please follow and like us:

Seiten: 1 2