So geht es auch dem 1997 verstorbenen, brasilianischen Pädagogen Paulo Freire. Einige kennen ihn als einen „Vertreter der revolutionären siebziger Jahre Lateinamerikas“ und haben ihn „abgehakt“ weil diese Zeiten vorbei sind, andere finden ihn zu „kompliziert“ oder zu „engagiert-politisch“, oder meinen, dass Freire für das „kleine Einmaleins Südamerikas“ wohl taugen würde, aber nicht für das „große Einmaleins Europas“.

Ein Problem besteht weiter darin, dass über die Weiterentwicklung Freires, von der „Pädagogik der Unterdrückten“ (Ende der 60iger Jahre) bis zur „Pädagogik der Autonomie“ (1996) wenig bei uns veröffentlicht wurde. Den „Schaden“ über diese Nicht-Wahrnehmung eines der größten Pädagogen unserer Zeit haben StudentInnen, LehrerInnen, im sozialen Bereich Tätigen und in der Konsequenz dann auch all diejenigen, die als SchülerInnen und „Klienten“ nicht in den Genuß der Umsetzung dieser interessanten Pädagoik kommen.

Im Folgenden will ich eine kurze Einführung in „Basisvorstellungen“ Freires geben:

Dialog und Kommunikation

„Dialog“ versteht Freire umfassend als kritischen Dialog zwischen LehrerInnen und SchülerInnen, zwischen Eltern und Schule, Gemeinwesen und Schule, etc.

Dialog, Kommunikation hat heute einen hohen Wert. Der Philosoph Habermas mit seiner „Theorie der kommunikativen Aktion“ sei hier genannt, Managertraining setzt darauf und auch die neuen elektronischen Medien sollen dafür nützlich sein. Aber Dialog und Kommunikation im tiefen Sinn ist weiterhin in der „normalen Schule“ nicht wirklich vorgesehen.

In seinen Klassikern „Pädagogik der Unterdrückten“ und „Erziehung als Praxis der Freiheit“ beschrieb Freire das herkömmliche Erziehungssystem als „Bankierskonzept“, als „Anlageprojekt des Wissens vom Kopf des Lehrers in den der Schüler“. Und so kritisierte Freire das herkömmliche Bildungssystem: „Der Lehrer weiß alles, die Schüler wissen nichts“. Diese Kritik stimmt so nicht mehr in allen Schulen, es wurden inzwischen partizipative Methoden entwickelt, aber im Großen und Ganzen ist diese Kritik weiterhin zutreffend.

Mit einer weiteren pädagogischen Grundaussage Freires tun sich viele PädagogInnen weiterhin schwer: „Es gibt keine absolute Ignoranz und kein absolutes Wissen“ und dem entsprechenden Aufruf, doch mehr miteinander zu lernen, unterschreiben auch nicht alle LehrerInnen. Das „im Dialog miteinander lernen“ ist weiterhin bei uns innerhalb-und außerhalb der Schulen eine unterentwickelte Kulturtechnik.

„Der Pädagoge ist Politiker und Künstler“

Auch diese Aussage in Verbindung mit der Grundannahme: „Es gibt keine neutrale Pädagogik“ macht nicht nur den Bildungsfunktionären Angst. Die Kunst des Lehrens wird innerhalb der „Didaktik“ abgehakt oder in Bildern aus der Gartenarbeit wie „hegen und pflegen“. „Ausgewogenheit“ und „Neutralität“ machen es m.E. vielen SchülerInnen so schwer, ihre Lehrer und Lehrerinnen als Menschen mit einer eigenen Meinung und „Rückgrat“ zu erleben.

Freire war kein „stiller“, meinungsloser Pädagoge. Seine Meinung: PädagogInnen, die nur zuhören und nie etwas sagen, oder, die es allen recht machen wollen, haben entweder nichts zu sagen, sind inkompetent oder Demagogen. Umgekehrt heißt es bei ihm aber auch, dass die Pädagogen, die selbst immer nur reden, auch nichts Neues dazulernen, inkompetent in Sachen Dialog und sozialem Lernen sind. Im Umkehrschluß heißt das: Niemand kann anderen etwas lehren, wenn er nicht von den „SchülerInnen“ lernt.

In diesem Sinne ist „ein Pädagoge eine Frau oder Mann die die pädagogische Politik aus einem theoretischen, philosophischen, kritischen Blickwinkel betrachtet und ein Praktiker des Lehrens und Lernens, aber immer wissend, das das alles eine politische Handlung ist.“

Bildung/Pädagogik ist keine „Brechstange“ für soziale Veränderungen, aber soziale Veränderungen brauchen Bildung/Erziehung.

„Wir sind Wesen der Veränderung und nicht der Anpassung“

Auch das ist eigentlich eine Binsenwahrheit, aber heute von Utopien zu sprechen, von Vorstellungen einer zukunftsfähigen Entwicklung etc. ist für viele mega-out. Sie werden als Reste des gescheiterten Sozialismus kritisiert.
Für all diejenigen, denen nicht egal ist, dass unter dem Etikett „Globalisierung-Neoliberalismus“ alles erlaubt ist, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden (in Nord und Süd), dass ein Brutalokapitalismus alles wegen kurzfristiger Interessen zerstören darf, finden wichtige Anregungen bei Freire.

Er kritisierte die neoliberalen Denkmuster, wonach die Veränderungen durch den Markt geschehen sollen als autoritäre, globale Strukturen. Für Freire gilt auch weiterhin: Es gibt Ausbeutung, Unterdrückung und Herrschaft – verbunden mit der Tatsache des Ausschlusses von Menschen (aus der Schule, aus sozialen Bindungen, aus dem sozialen Netz, etc.) und der Zerstörung (des Lebens, der Natur, von Kulturen).

Wie damit umgegangen wird, wie dagegen gekämpft wird, zeigen Praxis und Theorie verschiedener Bewegungen wie: Indigene Völker, Menschenrechtsgruppen, Frauengruppen, Jugendgruppen, Ökologiegruppen, Eine-Welt-Gruppen, Projekte im Bereich „alternativer Ökonomie“, neue Schulprojekte usw. usw.

Die aktuelle Richtung neoliberaler Vorstellungen und Konzepte im Bildungsbereich zerstören, so Freire, „die Möglichkeit zu Träumen“ und dies verunmöglicht die Zukunft.

Die „kulturelle Aktion“ muß nach Freire zusammengehen mit der „Theorie des Wissens“

Wissen, Kenntnisse sich aneignen heißt, sich zu fragen:
– Wozu will ich etwas wissen
– mit wem will ich etwas wissen
– im Interesse von wem etwas zu wissen oder zu lernen
– gegen wen etwas zu wissen und zu lernen

Das ethisch-politische Projekt Freires

Freire kritisierte auch das Verhältnis von vielen linken Führern zu den sozialen Bewegungen als wenig respektvoll. Sie sahen z.B. in der Frauenbewegung, in der Friedens-und Umweltbewegung eher eine „Fluchtbewegung“ vor den „eigentlichen“ Aufgaben wie die Macht im Staat zu übernehmen, oder sie kritisierten diese Bewegungen, weil sie keine klaren politischen Konzeptionen vertreten hatten.

Freire dagegen betonte, dass die sozialen Bewegungen in ihrer Entstehung politisch waren. Viele AktivistInnen betonten und betonten ihren „unpolitischen“ Charakter, aber wohl mehr, um sich von den vorherrschenden Begriffen der „Parteipolitik“ und dem, was üblicherweise unter „Politik“ verstanden wird, abzugrenzen.

Soziale Bewegungen als emanzipatorische Projekte befinden sich nicht im luftleeren Raum, sie sind – mit allen Problemen – angesiedelt z.B. in der Frauenbewegung, Umweltgruppen, Bewegung der arbeitenden Kinder, soziale Bewegungen gegen Arbeitslosigkeit, interkulturelle Arbeit usw.

Wichtig ist für Freire auch die Sichtweise: Einheit in der Unterschiedlichkeit! Das gibt viele Möglichkeiten, unterschiedliche Erfahrungen zuzulassen und nicht alles durch ein „Nadelöhr“ zu pressen.
„Probleme in Möglichkeiten“ zu verändern ist ebenfalls eine wichtige Empfehlung innerhalb des ethisch-politischen Projekts Freires.

Innerhalb unseres Lebens gibt es viele Momente und Gelegenheiten, wo wir keine Perspektiven sehen, apathisch, frustriert, zerstörend und uns selbst kaputtmachend sind, wo wir jegliche Hoffnung auf ein „besseres Morgen“ verlieren.

Die Lösung kann nicht heißen: „Träume Dich frei“ oder ähnliche unseriöse Angebote, die heute unter verschiedenen Namen angeboten werden. Auch innerhalb des pädagogischen Tuns – besonders mit ausgegrenzten, ausgestoßenen, verletzten und verletzenden Menschen – gibt es keine „Zaubermittel“.

Sicherlich gilt Freires Anregung, die (Neutralitäts)-Maske sowie die beruflichen „Handschuhe“ abzulegen und sich von der Realität „anstecken“ zu lassen, ohne sich z.B. mit der wenig romantischen Wirklichkeit der Straßen(kinder) zu identifizieren.

Mögliche Änderungen solcher Lebenssituationen finden nicht individuell statt, sondern in Gruppenprozessen (Freundschaften, „Familien“strukturen, Nachbarschaft, Cliquen, Anlaufstellen usw.)

Die Herausforderung besteht wohl darin, die (pädagogische) Aktion in einen Veränderungsansatz einzu“packen“, dabei einen hektischen Aktivismus (wie ein Hamster im Rad) zu vermeiden, also die Unruhe des „Tuns“ mit der Geduld des „Wissens“ zu verbinden. Etwas was sehr anstrengend ist, wenn man dabei versucht, „Schwierigkeiten in Möglichkeiten“ zu verändern.

Wichtig sind hierbei die Achsen:
– Ausgehend von der Analyse der Realität zum Wollen/Sensibilisieren/Motivieren zu kommen,
– unter bezug auf die konkrete Lebenssituation der Betroffenen zum vertieften Wissen zu kommen,
– und nicht dabei stehen zu bleiben, sondern zum Tun zu gelangen. Hier geht es um Übernahme von Verantwortlichkeiten, der Aufteilung von Aufgaben usw.

Oder, wie Freire es anders sagte: Ausgangspunkt ist die Realität, die Praxis. Diese gilt es zu reflektieren, um zu einer verbesserten Praxis zu gelangen.

Und hier schließt sich der Kreis: Eine „befreiende Pädagogik“ im Sinne Freires ist beileibe keine „platonische“ Angelegenheit. Sie wird interessant und wirksam, wenn sie sich – auf der Basis guter theoretischer Arbeit – in der Praxis bewähren „muߓ.

Heinz Schulze (Fritz / Christoph)

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