ak – analyse & kritik –
Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 512 / 15.12.2006

Der bizarre Klang der Revolte
Ein Rückblick auf das linksradikale Zeitungsprojekt agit 883

Peter Paul Zahl nannte sie nur „die Zeitung“. Das war 1979, sieben Jahre
nach dem Ende der agit 883. Fast 30 Jahre später haben andere eine
andere Geschichte dieses außergewöhnlichen linksradikalen
Zeitungsprojekts geschrieben – weniger literarisch, aber nicht weniger
lesenswert. In den Jahren 1969 bis 1972 war die agit 883 zweifellos die
politisch bedeutsamste Zeitung der undogmatischen und radikalen Linken
zumindest in Berlin. Zeitweise erzielte das Blatt eine wöchentliche
verkaufte Auflage von 10.000 Exemplaren.

Die agit 883 erschien in einer der entscheidenden Umbruchphasen der
bundesdeutschen Neuen Linken. Der studentische Protest hatte seinen
Höhepunkt gerade erreicht, der Zerfallsprozess des SDS war unübersehbar,
die diversen marxistisch-leninistischen Parteigründungsprojekte
zeichneten sich genauso am Horizont ab wie die Hinwendung zu Formen von
bewaffneter Politik und Stadtguerilla. Die Revolte von SchülerInnen und
Arbeiterjugendlichen war genauso in der Politszene der Frontstadt
angekommen wie das vielfältige Feld des alternativen und mehr oder
weniger subversiven „Undergrounds“ aus Kneipen, Buchläden, Drogen,
Musik, Kommunen und anderen Kollektivexperimenten.

Die unterschiedlichen Strömungen und Szenen, die in den 1970er Jahren
das Spektrum der linken und alternativen Subkultur bilden sollten, waren
Ende der 1960er Jahre erkenn- und erahnbar, aber noch lange nicht scharf
oder gar unversöhnlich von einander getrennt. Maoistische
ParteigründerInnen diskutierten noch mit AnhängerInnen des bewaffneten
Kampfes, AktivistInnen aus Betriebsbasisgruppen mit StudentInnen,
politisierte Freaks mit AnarchistInnen. Hart und unerbittlich wurden die
Debatten geführt, oft rechthaberisch und voller gegenseitiger Vorwürfe,
immer mit der heiligen Inbrunst des revolutionären Eifers. Und dennoch
haben sich zwischen 1969 und 1972 alle relevanten Strömungen der
radikalen Linken auf die agit 883 als gemeinsames Forum bezogen,
unabhängig davon, welche Strömung gerade die Redaktion majorisierte.
Hierin lag die Stärke wie auch die politische Bedeutung des Blattes. Ihr
Ende 1972 markiert somit auch den Zerfall dieser gegenseitigen
Bezugnahme und die zunehmend starre Abschottung der Szenen, Milieus und
politischen Diskurse.

Für viele, deren politische Sozialisation erst Mitte der 1970er Jahre
begonnen hatte, war die agit 883 bereits ein Mythos, von dem man sich
ehrfurchtsvoll erzählen ließ und der immer wieder als Projektionsfläche
für die eigenen revolutionären Vorstellungen und Träume diente.
Tatsächlich zugänglich war die Zeitung den allermeisten allerdings
nicht. Weggebunkert in Privatarchiven und Bibliotheken von
Forschungsinstituten hat es niemals in irgendeiner Form ein Reprint
dieser Zeitung gegeben – vielleicht auch deswegen, weil die agit 883 wie
kaum ein anderes Organ der Linken von der staatlichen
Repressionsmaschinerie verfolgt wurde. Razzien in den Redaktionsräumen
und bei RedakteurInnen, Beschlagnahmungen ganzer Auflagen bis hin zu
Prozessen gegen die DruckerInnen der agit 883 haben die Zeitung von
ihrem Anfang bis zum Ende begleitet.

Vergleichbar vielleicht nur mit Ton, Steine, Scherben verkörpert der
Mythos der agit 883 den Zusammenhang von Jugendkultur, Revolte,
Militanz, Klassenkampf, Kiffen, Musik, Umsturz und Antiautoritarismus.
Angesichts einer Geschichtsschreibung, die die Große Revolte der 1960er
Jahre zunehmend abwickelt, zähmt und ihre rebellischen Schmuddelkinder
im Nachhinein diskreditiert, ist es ungemein sympathisch, wenn jetzt ein
Buch vorgelegt wird, dem es erklärtermaßen darum geht, den fernen „Sound
der Revolte“ in die Gegenwart hinüberzuretten. Dabei ist „agit 883.
Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969-1972“ keineswegs ein
Lobgesang auf vergangene, bessere Zeiten. Dazu ist nicht nur der
zeitliche Abstand zu groß, sondern der Inhalt der agit 883 in vielen
Fällen einfach zu krude. Nach einer sehr informativen Einleitung der
Herausgeber über den politisch-subkulturellen Sumpf in Berlin Ende der
1960er Jahre, dessen schillernde Blüte die agit 883 war, setzen sich
daher die meisten Beiträge in dem Sammelband kritisch bis
distanziert-amüsiert mit der Art und Weise auseinander, wie die radikale
Linke vor 36 Jahren z.B. Internationalismus, Rassismus, Imperialismus
oder nationale Befreiungsbewegungen und bewaffneten Kampf diskutiert hat.

Aus der Fülle der thematisch wie inhaltlich sehr unterschiedlichen
Beiträge ragen diejenigen von Massimo Perinelli und Peter Birke heraus.
Perinelli analysiert kritisch-ironisch die Sexualitätsdiskurse in der
agit 883 und kommt zu dem Schluss: „Die Verachtung des Sexuellen
bedeutet das Ende der zerbrechlichen Versuche, Sexualität jenseits von
harten Genossenschwänzen und bürgerlicher Sexualmoral zu erproben.“
Birke hingegen beschreibt den „Traum von der kämpfenden Arbeiterklasse“,
der angesichts von Septemberstreiks und neuer ArbeiterInnenmilitanz in
der radikalen Linken geträumt wurde. Seine Analyse ist auch eine
Beschreibung dessen, wie offene Suchprozesse in sozialen Bewegungen –
etwa durch die Betriebsbasisgruppen – zunehmend zwischen dem
Bürgerkriegsfinalismus der RAF einerseits und der blutleeren Orthodoxie
der ML-Gruppen andererseits zerrieben wurde.

Das Buch wartet mit einem besonderen Leckerbissen auf: Auf einer
beigelegten CD-ROM haben die HerausgeberInnen aller verfügbaren Nummern
der agit 883 erfasst und der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Somit ist es endlich möglich, den Mythos agit 883 durch eigene
Anschauung zu knacken: vergangenen revolutionären Zeiten und Taten
nachzutrauern, sich über antisemitische Ausfälle zu empören, sich über
einen verkürzten Antiimperialismus zu ärgern, sich über skurrile
Sex-Kleinanzeigen zu amüsieren, sich über das herrliche Chaos von Mao,
Marx, Bakunin, Che und Jimi Hendrix zu freuen, über die Entdeckung neuer
revolutionärer Subjekte den Kopf zu schütteln und den – manchmal
bizarren – Klang der Revolte noch einmal deutlich zu hören.

dk

Rotaprint 25 (Hrsg.): agit 883. Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969-1972, Assoziation A, Hamburg/Berlin 2006, 294 Seiten, 22 Euro

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