Nothilfe:
Wenn wir Bagdad mit unseren Aerzteteams verlassen, dann sind wir auf uns
selbst angewiesen. Der Einfluss der Regierung schwindet, je weiter man
sich aus der Hauptstadt entfernt. Wir verfuegen ueber mehrere
Aerzteteams, die alle ehrenamtlich arbeiten. Bekommen wir einen Notruf,
etwa nach einem Gefecht, und stellen wir fest, dass Hilfe notwendig ist,
rufen wir ueber Mobiltelefone unsere Mitglieder zusammen und fahren in
die umkaempften Gebiete. Wir koordinieren uns mit den oertlichen Clans
und ihren religioesen Fuehrern. Wir helfen allen, unabhaengig davon,
warum sie verwundet wurden. Wuerden wir dieses Prinzip aufgeben,
verloeren wir unsere Akzeptanz – und unsere Sicherheit. Wir arbeiten
nicht nur in den sunnitischen Aufstandszonen, sondern auch in Bagdad.
Als im September 2005 in einer Massenpanik ueber 800 schiitische Pilger
auf einer Tigris-Bruecke ums Leben kamen, leisteten wir
selbstverstaendlich Erste Hilfe und riefen zu Blutspenden auf.
Neutralitaet:
Wir sind unabhaengig, aber koennen wir wirklich neutral sein? Du siehst
Menschen, die in Stuecke geschossen werden, und das macht dich wuetend.
Wir konnten im Herbst 2004 in die suedlichen Stadtteile von Falludscha
gelangen, unmittelbar nach der zweiten Offensive der US-Truppen. Wir
sahen Leichen, die durch den Einsatz von Brandbeschleunigern geschmolzen
waren. Es waren Verbrennungen, wie sie von weissem Phosphor und Napalm
herruehren. Die Kleider bleiben dabei
intakt, aber die enorme Hitze frisst das Fleisch einfach weg. Danach
besuchte ich ein nahes Auffanglager der US-Armee. Kurz zuvor waren alle
Maenner zwischen 18 und 35 Jahren verhaftet worden. Sollte ich
schweigen, um die Amerikaner nicht zu veraergern und weiterhin die
Fluechtlinge versorgen zu koennen? Ich entschied mich zu sprechen. Sonst
haetten mir die Betroffenen geantwortet: „Ich brauche deine Hilfe
nicht, wenn du mir nicht hilfst, dass meine Stimme von anderen gehoert
wird“.
Sensibilitaet:
Wir muessen hinter den militaerischen Vorhang blicken. Es fehlt die
noetige Trennschaerfe, denn die humanitaere Hilfe droht hinter
militaerischen Zwecken zu verschwimmen. Wir als Doctors for Iraq sagen
es so: Es gibt eine militaerisch-humanitaere Mission und es gibt eine
humanitaere militaerisch-humanitaere Mission. Erstere ist dann der Fall,
wenn die Armee versucht den humanitaeren Helfer zu spielen. Zweitere
herrscht dann, wenn die humanitaere Hilfe hinter oder gar mit den
Truppen im Schlepptau auftaucht. So wird die Hilfe in die militaerische
Mission integriert – und pervertiert. Nur ein Beispiel: Nach dem
Einmarsch in Bagdad erzwangen US-Offiziere die Uebergabe eines
Krankenhauses an das Italienische Rote Kreuz. Die Chefaerzte wurden
abgesetzt, ein weithin sichtbares Rotes Kreuz an den Aussenmauern
angebracht, der Eingangsbereich militaerisch mit Stacheldraht und
Fahrsperren gesichert; seitdem mussten die Ambulanzen Umwege fahren.
Wenige Monate spaeter schlug eine Rakete im Gebaeude ein, die zwei
meiner Kollegen toetete. Ohne Sensibilitaet kann man nicht helfen, schon
gar nicht von aussen. Es gibt diese abspeisende Hilfe, die zu den
Beduerftigen nur eine sporadische Beziehung herstellt: Wir raten, nicht
zuletzt aus Sicherheitsgruenden, allen auslaendischen NGOs dazu, die
Projektplanung und die Ausfuehrung, einfach alles, ortsansaessigen
irakischen Initiativen zu uebertragen. Wir benoetigen keinen besonderen
Schutz und wissen, was die Menschen wirklich benoetigen.
Korruption:
Unser Gesundheitssystem ist mittlerweile voellig kollabiert.
Allgegenwaertig ist eine unglaubliche Korruption. Als im letzten Sommer
in meinem Krankenhaus in Bagdad die Sauerstoffvorraete zur Neige gingen,
baten wir um neue Lieferungen. Daraufhin wurde uns erwidert, das Geld
waere ausgegangen. Kurz darauf erhielten die Mitarbeiter der Rezeption
neue Anzuege; auf Sauerstoff mussten wir monatelang warten. An einigen
Krankenhaeusern werden marmorne Eingangssaeulen gebaut, Chefaerzte
erhalten Laptops, aber die Apotheken haben nicht genug Medikamente.
Abwanderung: Besonders hart trifft uns der Brain Drain, die Abwanderung
hoch qualifizierter Arbeitskraefte, sowohl im Bildungssystem, aber noch
staerker im Gesundheitssektor. Dazu kommen die gezielten Anschlaege auf
die Intelligenz. In den letzten anderthalb Jahren wurden ca. 250
irakische Professoren und Aerzte Opfer von Attentaten! In meiner
Abteilung wurden zwei von neun
Mitarbeitern ermordet. Die US-Truppen spielen eine unruehmliche Rolle.
Auch sie, warum auch immer, beschiessen uns. Waehrend der Operation
„Matador“ im Mai 2005 wurde das wichtigste Krankenhaus in Hadeetha von
ihren Heckenschuetzen angegriffen. Wir operierten gerade, als sie mit
ihren Panzern ins Krankenhaus fuhren. Aerzte wurden verhaftet, das
Medikamentenlager brannte vollstaendig aus.
Privatisierung:
Sie schraenkt die Behandlungsmoeglichkeiten extrem ein. Medizinische
Bedarfsartikel, die frueher in staatlichen Fabriken preiswert produziert
wurden, wie der schon erwaehnte Sauerstoff, kosten heute das
Zwanzigfache auf dem freien Markt. Bei ueber 40 Prozent der
erhaeltlichen Arzneimittel ist das Haltbarkeitsdatum abgelaufen. Falls
ueberhaupt, bekommen wir alte Antibiotika, die vorher wochenlang in der
Wueste kochten. Viermal haben die irakischen Aerzte in den letzten
anderthalb Jahren gegen diese Zustaende gestreikt. Als Antwort kam die
Armee. Diesmal waren es Iraker. Die Soldaten stuermten ins Krankenhaus
und zerschlugen einem Arzt das Gesicht. Sie warfen uns vor, sie nicht
bevorzugt zu behandeln. Den Gesundheitsminister kuemmert das nicht.
Religion:
Ein besonders sensibles Thema ist die zunehmende Praesenz politischer
und religioeser Symbole. Immer mehr Bilder von Imamen tauchen in den
Krankenhaeusern auf, Prediger kommen mit Megafonen auf die Flure und
fordern die Patienten zum Gebet auf. Ich achte die Religion sehr, aber
ein Krankenhaus sollte ein Platz der Ruhe sein.
Gesundheitsrechte:
In der neuen Verfassung ist das Recht auf Gesundheit nur eine
Marginalie. Auch deshalb knuepfen wir verstaerkt Kontakte zur
Aussenwelt. Der Besuch der People’s Health Assembly in Ecuador war eine
grossartige Erfahrung fuer mich. Wir versuchen jetzt, den Irak auf die
Landkarte des People’s Health Movement (PHM) zu bringen. Die
internationale und die irakische Gesundheitsbewegung haben vieles
gemeinsam, etwa die Erfahrung der Privatisierung. Im Netzwerk des PHM
koennen wir nur lernen. Aber auch die Bewegungen muessen verstehen, wie
unsere Situation wirklich ist.
Gerechtigkeit:
Den Prozess gegen Saddam Hussein betrachten wir Iraker mit gemischten
Gefuehlen, auch wenn wir uns eigentlich freuen sollten, denn er war ein
Verbrecher. Einige wuenschen sich einen fairen Prozess; andere meinen,
er sollte im Ausland verurteilt werden, manche dagegen finden noch immer
Gefallen an seinem Auftreten. Alle aber wissen, dass die Fernsehbilder
ein letztes Aufflackern einer Vergangenheit sind, die so nicht
wiederkehren kann. Saddams Zeit ist unwiderruflich abgelaufen und die
Menschen haben andere Sorgen – das Fehlen von Strom, Wasser, Kraftstoff.
Hoffnung:
Viele junge Leute im Irak tun alles, um das soziale Gewebe der
Gesellschaft zu heilen. Aber wir stehen erst am Anfang. Die westlichen
Berichterstatter reden immer davon, dass unser Land in den Buergerkrieg
zu kippen droht. Mag sein, dass die Chancen dafuer fifty-fifty stehen.
Aber wir fordern alle auf, nicht auf diejenigen zu blicken, die den
Krieg wollen. Denn wir sind die anderen 50 Prozent. Und wir sind die
einzige Chance, dass dieser Alptraum enden kann.
Aufgezeichnet von Martin Glasenapp
Aus: medico-Rundbrief 1/2006
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Projektstichwort
Die Doctors for Iraq (DFI) gruendeten sich kurz nach dem Sturz der
Baath-Diktatur 2003. Anfangs leisteten Dr. Salam Ismael und drei
Kollegen humanitaere Hilfe, doch entwickelte sich schnell ein
landesweites ehrenamtliches Netz von ca. 250 Aerzten. Die Doctors
arbeiten vorrangig mit kleinen Notfallteams in militaerisch umkaempften
und unterversorgten Regionen im West-Irak. Dabei erheben sie auch Daten
ueber die allgemeine Gesundheitslage, Menschenrechtsverletzungen und
Verstoesse gegen das internationale humanitaere Voelkerrecht. Der
gemeinsame Einsatz gegen die Vogelgrippe bringt die Doctors jetzt
erstmals mit den langjaehrigen medico-Partnern der Kurdish Health
Foundation zusammen.
medico foerdert ein Notfall-Team der mutigen Doctors for Iraq. Unser
Spendenstichwort dafuer lautet: Irak.
Spendenkonto von medico international:
Konto-Nr. 1800, Frankfurter Sparkasse, BLZ 500 502 01
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CONTRASTE ist die einzige ueberregionale Monatszeitung
fuer Selbstorganisation. CONTRASTE dient den Bewegungen als monatliches Sprachrohr und Diskussionsforum.
16. Dezember 2006 um 23:23 Uhr
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