Obwohl ich in der Paulo Freire Gesellschaft im Vorstand bin, sehe ich an mir selbst, dass es um „meinen“ Freire“ ruhiger geworden ist. So sehe ich auch, dass es an der Zeit ist, sich mit den verschiedenen Facetten Freires zu beschäftigen.

Wichtige Anstöße dazu kamen – und man braucht in der hektischen Arbeit und den vielen wichtigen Projekten in denen man steckt, immer wieder Anstöße – von Oscar Jara (in der Vereinigung Alforja aus Costa Rica), von Juan Acevedo (Comicmacher aus Lateinamerika, der sehr wohl mit der Konzeption Freires arbeitet, u.a. anhand von Schlüsselthemen etc.), der Arbeit der Erd-Charta (mit dem Blick auf das Wesentliche) und einem Artikel von Rosa Maria Torres.

Die erste Feststellung zu den unterschiedlichen Facetten Paulo Freires:

Er wurde von Teilen seiner „Anhänger“ mystifiziert, von seinen Gegnern verteufelt und von vielen unverstanden. Ich erinnere mich, dass er bei seinem Besuch in München betonte, dass man doch bitteschön seine Arbeit im historischen Zusammenhang sehen müsse und ihm das Recht zugestanden werden müsse, weiter zu denken, weiter zu lernen und er nicht auf den Stand von 1967 (seines Werkes „Erziehung als Praxis der Freiheit“) und 1969 (Pädagogik der Unterdrückten) festgeschrieben sein will.

Ich erinnere mich an heftige Kritik aus der Feder deutscher Pädagogik-Wissenschaftler, die Freire eine unwissenschaftliche Didaktik vorwarfen, das allerdings nur in Form von Frontal-Unterricht-Vorlesungen. Ich erinnere mich an den Provinzialismus der Münchener Uni (Pädagogik), wo von einer Doktorandin aus Brasilien der Vorschlag kam, dass Paulo Freire bei der Feier zur Übergabe der Doktortitel ein Grußwort-Kurzreferat halten sollte.

Die dafür zuständige Professorin stellte eine Anfrage an die P. Freire Gesellschaft dergestalt: „Hat dieser Herr schon etwas publiziert“. Paulo Freire wurde natürlich nicht eingeladen. Im Publikum sitzend musste er sich eine Grundsatzrede über „irgendwas in der Philosophie der griechischen Philosophen anhören (ehrlich: ich hab mich mit der Übersetzung schwer getan). Paulo Freire war echt entsetzt, dass in einer Feierstunde den Philosophen-Pädagogen „so was“ geboten wurde… Das ist ja noch schlimmer als bei uns in Brasilien an der Universität meinte er murmelnd.

Seriöse Kritik aus dem Umfeld der feministischen Wissenschaften hat er reflektiert und teilweise akzeptiert. Mit einer Kritik wie der Folgenden konnte auch er nicht viel, außer Belustigt-Sein, anfangen. Eine Kritik war, dass in seinen Büchern nicht die Schreibweise mit „Innen“ (LehrerInnen) galt. Das war dann doch wohl eher ein Problem der Übersetzung ins deutsche (wie war das in den 70er Jahren mit den „Innen“) und die gleiche Kritikerin hat dann auch u.a. „liebe MitgliederInnen“ geschrieben. Aber genug der Anmerkungen der leichteren Art.

Wer das Denken und Wirken Freires auf die Alfabetisierung reduziert, la-le-li.lo-lu… tut ihm natürlich total Unrecht. Viele Diplomarbeiten mit bezug auf Paulo Freire hatten diesen Hühnerkäfig-Blick: Freire im Käfig des la-le-li-lo-lu“.

Zu erinnern ist auch an die heftige (ideologische) Kritik aus der Ecke der moskau-orientierten Politik hier bei uns, die Freire als „lauen und nur humanistischen Menschen“ bezeichnete, wie auch die von bestimmten Kreisen, die ihn des Eklektizismus (der Nachahmung) beschuldigte, weil er keine eigene, abgeschlossene Richtung entwarf.

Es ist gut und wichtig, Freires kreatives, politisches, philosophisches, pädagogisches Denken und Tun mit Begriffen erklärbar zu machen. Wichtig ist aber, ihn nicht auf diese Steine, auf die man treten kann, zu reduzieren.

Er bezeichnete seine ersten Publikationen als teilweise nativ, subjektiv und ungenau in politischen Aussagen. Schon früh nahm er beispielsweise Abschied vom Begriff „conzientización“ (Bewusstseinsbildung), weil dieser eine große Abnutzung erfuhr und für „alles“ hergenommen wurde.
(Anmerkung: Oscar Jara weist darauf hin, dass der Begriff „concienticaó“, Bewusstseinsbildung wohl aus der Arbeit des Instituto Superior de Estudios Brasilieuros (ISEB) so ungefähr im Jahre 1965 entwickelt wurde, um eine eigenständige brasilianische Entwicklungsideologie zu entwickeln. Freire wurde der große „Verbreiterer“ dieses Begriffs weltweit).

Freire kann auch nicht als Zeuge für eine „Nicht-Pädagogik“ hergenommen werden. PädagogInnen sind nicht gleich wie SchülerInnen. Er betont immer wieder: Die ErzieherInnen, die so tun, als seien sie gleich wie die SchülerInnen sind entweder demagogisch oder sie lügen oder sie sind inkompetent. „Lehrerin ja – Tante nein“ sagt er in seinem Buch: Profesora si, tia no, in cartas aquien pretende ensenar, 1994).

Begriffliche „Haltegriffe“:
Solche methodischen und konzeptionellen „Haltegriffe“ zu Freires Arbeiten sind: Bewusstseinsbildung, Volkserziehung, Bankierserziehung, generative Wörter, thematisches Universum, Dialog, Aktion-Reflexion-bessere Aktion, Kultur des Schweigens, kulturelle Invasion, etc. etc.

Einige reduzieren ihn auf die „Methode Freire“, andere sprechen von der „Pädagogik Freires“… alles verständlich, um sich leichter zu verständigen, aber Freire hat nie von sich als „Methode“ oder auch „System Freire“ gesprochen. Es ist auch unseriös, „alles“, wo mal Freire zitiert wird und irgendwie eine Reformpädagogik gemeint ist, als „Freire-Publikationen“ heraus zu bringen. Eine Einschränkung Freires auf Lateinamerika ist auch nicht gerechtfertigt. Zu schnell kommt dann die Schublade: Lateinamerika, das ist Che, Freire, Salsa, etc.

Was gilt denn nun für Freire?

Was für Freire gilt und bereits angesprochen wurde ist, dass er heftige emotionale, politische und „bildungswissenschaftliche“ Reaktionen hervorgerufen hat. Das gelang bisher wenigen PädagogInnen. Auch nicht den Didaktikern und PädagogInnen, die Freire unter „Geschichte der Pädagogik“ abhandeln,, als jemand, der „früher und in Lateinamerika eine gewisse Bedeutung hatte“, aber heute, bitteschön in Zeiten der Globalisierung keine Bedeutung mehr hätte. Heute müsse man das „große Alphabet“ im Kopf haben und nicht die „kleine Alfabetisierung“.

Ist Freire heute noch „in“?

In den 70/80er Jahren gab kaum eine größere Bildungsaktion (in lateinamerika), die sich nicht auf Freire berufen hat (sei es pro oder contra). Heute gibt es viele pädagogischen Projekte, die von sich sagen, dass sie Freire „überwunden“ hätten. Die Meinungsherrschaft im pädagogischen Diskurs haben heute „globale player“ wie die Weltbank oder auch die UNESCO oder Denkfabriken neoliberaler Politik.

In Deutschland beschränkt sich die pädagogische Diskussion wichtiger Einrichtungen, auch Universitäten darauf, wie der „Pisaschock“ überwunden werden kann. Natürlich gibt es engagierte ProfessorInnen, InstitutsmitarbeiterInnen und sogar in Teilen der Bildungsministerkonferenz wo eine didaktische Vorgabe für ein „nachhaltiges Lernen“ in der Schule in Arbeit ist.

„Out“ ist Freire für alle, die eine technische, funktionierende Lösung von pädagogischen „Techniken“ suchen, mit denen Menschen leichter etwas „beigebracht“ werden kann, oder womit sie manipuliert werden sollen „ohne es zu merken“. Wer für eine Beibehaltung der neoliberalen Ordnung eintritt, dabei keine Hoffnung für eine bessere Welt hat, keine Utopien zulässt – die dies alles in ihrem Gefängnis mit Namen Zynismus eingesperrt haben, werden mit Freire nichts anfangen können.

Auch diejenigen, die immer noch (oder schon wieder) in der Umweltbewegung, in umweltkritischen Gruppen, in partei-politischen Zusammenhängen meinen, man müsse bloß den Leuten „das richtige Bewusstsein beibringen“, dürfen sich nicht auf Freire beziehen. Sie müssen Freires Kritik auf diese Form der „linken Bankierserziehung“ ernst nehmen.

Freire hat all denjenigen viel zu „sagen“, die sich nicht damit abfinden wollen, dass Ungleichheit und Ungerechtigkeiten auf der Welt zwischen Nord und Süd und innerhalb unserer eigenen Gesellschaft zwischen Arm und Reich etc. quasi als etwas schicksalhaftes gegeben ist, sondern, dass diese ungerechten Verhältnisse menschengemacht sind und somit auch veränderbar sind.

Freire gibt Studierenden und PraktikerInnen weiter sehr wichtige Anstöße dafür, „das Beste in sich“ zu entdecken, Mitmenschlichkeit, Generosität etc. und Ideen, wie man die Welt besser „verstehen“ kann sowie die Kraft für eine Haltung einzunehmen, dass es sich lohnt, an der Vermenschlichung der Welt mit zu wirken.

Alle, die heute im Bereich des „Globalen Lernen / der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ sich betätigen, können bei Freire „fündig“ werden und Anregungen finden für ein umfassendes Bildungskonzept „mit Herz und Verstand“, mit der Perspektive „Wissen und Tun“ stärker zu verbinden. Wichtig ist die Einsicht, dass „Bewusstseinsbildung“ alleine nichts verändert. Wichtig ist strukturelles Denken, wichtig ist, dass Aktion-Reflexion-bessere Aktion ein wichtiger Dreischritt ist.

Beruhigend ist sicher: Man kann alles von Freire gelesen haben, aber es ist nicht möglich „alles“ in seiner eigenen Praxis umzusetzen. „Man kann nur das machen, was historisch möglich ist“, ist eine beruhigende Aussage Freires.

Es ist gut, Begriffe wie Hoffnung, Befreiung, Utopien nicht in eine dunkle Kammer einzusperren, gerade als PädagogInnen. Nicht nur bei attac soll es heißen. Eine andere Welt ist möglich. Daran zu arbeiten, da haben sich sicher Vorgehensweisen und theoretische Konzepte in den letzten Jahren verändert, aber der große Wunsch und die Erkenntnis, dass es nicht weiter so laufen kann wie aktuell, macht sich mehr und mehr bemerkbar: In der Kritik an den G8, in der Diskussion um den Klimawandel, im Kampf gegen den Vorrang des Kapitals auf „Teufel komm raus“. Hierzu gibt Freire nicht nur „philosophische Gedanken“ sondern auch wichtige Anregungen für die pädagogische Praxis. (Heinz Schulze)

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