Ich bedanke mich für ihm sehr herzlich für die Genehmigung, seine Hauptanliegen zusammenfassen zu dürfen, und zugleich meine Aufzeichnungen über seine Ausführungen zum gleichen Thema beim 20-jährigen Jubiläumstreffen von Alforja (1966 in Panama) und beim Internationalen Seminar zur Volkserziehung zum Beginn eines neuen Jahrtausends vom Internationalen Netz Paulo Freire für Kommunikation und Entwicklung (Nov. 1977 in Cadiz), mit einzuarbeiten. Heinz Schulze, München, 2003

Feststellung
Egal, ob jemand diesen Ansatz kritisiert, ablehnt, ihn befürwortet oder praktiziert: Die Erfahrungen der „educación popular“ (Volkserziehung) sind als spezifischer lateinamerikanischer Ansatz , der über die Pädagogik hinausgeht, als einer der wichtigsten und aktuellsten Denk -und Handlungsströmungen ernst zu nehmen und intensiver Gegenstand für das Studium und die Forschung

Anfänge und Grundlagen:
Was ist nun die Volkserziehung?

* Ein Konzept voller Dynamik mit Rückkoppelung zur eigenen geschichtlichen Praxis derjenigen, die damit arbeiten,

* eine soziale, pädagogische, politische und kulturelle Praxis

* kein akademisches Produkt von Wissenschaftlern und Spezialisten, die sich das, abgeschirmt vom eigenem Leben und der eigenen Entwicklung, ausgedacht haben.

* Sie baut auf früheren Erfahrungen auf, wie auf die „Arbeiterzirkel“, die Erfahrungen des peruanischen Philosophen und Politikers (amauta) Jose Carlos Mariátegui, die Bemühungen zur Bildungsarbeit von General Sandino in den nicaraguanischen Bergen oder denen von Lázaro Cárdenas in Mexiko, die Erziehungspraxis von Carlos Fonseca in der frühen Phase der sandinistischen Befreiungsfront, etc.

* Wir haben es mit einer Theorie zu tun, die Praxis wurde und mit einer Praxis, die, da sie systematisiert und analysiert wurde, sich zu einer Theorie entwickelte.

* Natürlich hat Paulo Freire mit seinem Lebenswerk eine klare Konzeption für die Volkserziehung geliefert, mit einer deutlichen Verpflichtung im Sinne einer „Parteinahme für die Unterdrückten“ und „Option für die Armen“ für diejenigen, die im Bereich der „Pädagogik der Unterdrückten“ tätig sind. Paulo Freire schuf den „großen Wurf“, wie Theorie und Praxis zusammenzubringen ist. Seine Ideen wurden und werden tausendfach in Lateinamerika (und in der ganzen Welt, Anm. H. Schulze) aufgegriffen. Viele dieser Erfahrungen erreichen ein hohes Niveau und unterstützen andere Einrichtungen und Projekte, ihre Praxis-Theorie-Arbeit zu verbessern.

* Die Volkserziehung ist beileibe keine „Praxiswurstelei“, die die Theorie verabscheut. Von denjenigen, die sie im richtigen Sinn verstehen, wird keine substantiell wichtige Unterstützung aus der „klassischen Pädagogik“ oder aus der Wissenschaft abgelehnt. Was gemacht wird ist, kritisch auf diese Konzepte und Erkenntnisse zu schauen, ob und für wen sie tauglich sind.

– Volkserziehung ist wissenschaftlich, weil sie auf wissenschaftliche Erkenntnisse aufbaut, wissenschaftlich Erkenntnisse erzeugt und umsetzt. (Dieses kann nicht von denjenigen negiert werden, die z.B. „wissenschaftliche Pädagogik“ nur dann akzeptieren, wenn sie angeblich „neutral“ oder „ausgewogen“ ist, dazu später, Heinz Schulze).

Der Paradigmawandel in der Gesellschaft und die Volkserziehung:

Für die „educación popular“ gilt weiterhin als Grundwert die Parteinahme für die Mehrheit der – unterdrückten Bevölkerung – und ihrem Kampf für eine menschenwürdigere Gesellschaft, sowie der „dialektische Charakter“, der die methodologischen Vorschläge des Tuns leitet. Die Situation ist hier zwischen Nord und Süd unterschiedlich, weil im Norden die Situation der absoluten Armut nicht für die Mehrheit der Bevölkerung bedrohlich jeden Tag zu leben gilt. Mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit, der zunehmenden 2/3-Gesellschaft, der Kürzung im sozialen Netz, der allgemeinen Zunahme von Risiken der (Über)-Entwicklung zeigt in etwa auf, was im Norden „Parteilichkeit“ bedeutet.

Das Festhalten an solchen Grundwerten wird heute von nicht Wenigen kritisiert. Es ist eine Tatsache, daß die aktuelle Krise der Paradigmas Viele, die im Bereich fortschrittlicher Basisarbeit tätig sind, und die sich für Gerechtigkeit und (Menschen)-Würde engagieren, ein kräftiger Schlag war und ist. Nicht Wenige haben angesichts der erlittenen politischen Frustrationen sich „umgedreht“ und beten jetzt voller Scham den „Gott des freien Marktes“ an.

Natürlich waren Engagierte im Bereich der Volkserziehung mit und in revolutionären Bewegungen in Nicaragua, El Salvador, Guatemala etc. tätig. Sie gehörten in den allermeisten Fällen nicht zu den dogmatischen Flügeln, diskutierten heftig in ihrem Umfeld über „banale Sachen“ wie: Wer eine wirkliche Demokratie will – und keine „Diktatur des Proletariats“ muß dieses im eigenen politischen Tun praktizieren.

Sie kritisierten schon früh das schizophrene Verhalten vieler Linker in Lateinamerika, die Partizipation und „Dialog mit den Massen“ predigten, aber mit Methoden arbeiteten, die autoritär und vertikal waren. Diskutiert wurde auch die Anwendung eines unkritisch „angelernten“ europäischen Sozialismus a la Leninismus-Stalinismus, der mit ihrem eigenen Leben und den Vorstellungen der Menschen nichts zu tun hatten, wenn indigene Völker darin nicht vorkamen, wenn die Landbevölkerung als potentielle Verräter angesehen, wenn die Frauenfrage ein Tabu war, etc.

Die Auseinandersetzungen mit dieser „doppelten Moral“ (zwischen öffentlichem Auftreten und dem Verhalten zuhause oder in der eigenen Partei oder Organisation) war für viele Frauen der Grund, hier einen gründlichen Schnitt zu machen. Wenn hier die Kritik an den fortschrittlichen Menschen so deutlich ist und die Rechten gar nicht erwähnt werden, heißt das nur, daß dort die Moral nicht „doppelt“ ist, sondern „eindeutig“ antidemokratisch, antidialogisch und frauenfeindlich.

Diejenigen, die durch ihre hier kurz beschriebene Art und Weise des Tuns gescheitert sind, erleben die aktuelle „Vorherrschaft“ neoliberaler Werte als besonders schmerzhaft, und, weil sie keine Alternativen für sich haben, sind sie desillusioniert und oft im Lager derjenigen, die vom „Ende der Geschichte“ reden und innerhalb des Sieges des Kapitalismus versuchen, ihren Anteil zu bekommen.

Andere versuchen, ihre Praxis den aktuellen Bedingungen, den neuen Herausforderungen anzupassen.
Es gibt aber auch diejenigen, die dem „Neuen“ abschwören und mit voller Kraft an die alten Methoden anknüpfen wie: Kontrolle ausüben, die Führerschaft beanspruchen, Manipulation ausüben – und alles zum Besten der Bewegung und der Massen, die sonst im aktuellen Kontext total ideologisch wegsacken würden.

Generalisierend kann gesagt werden, daß diejenigen, die in der Volkserziehung tätig waren und sind, nicht „über“ die Leute hinweg agiert haben, sondern von den Leuten (pueblo) ausgehen und mit ihnen arbeiten.

Und von dieser Ebene aus: Von den Werten der (einfachen) Menschen, von ihren Beschränkungen, ihren Widersprüchen, ihren Süchten, heldenhaftem Engagement, Einfallsreichtum, Solidarität wie brutale gegenseitige Unterdrückung – halt von der Wirklichkeit und nicht von unseren Bildern vom „Volk“, unseren Interpretationen, unseren idealisierenden Bildern von der „Basis“ haben wir mit den „normalen Menschen“ gelernt, und Fehler gemacht. Das hat uns gezwungen, dauernd weiter mit unserer Aktionsforschung zu machen und unser „Handwerkszeug“ laufend anzupassen oder zu erneuern.

Das ist unsere „Versicherung“ gegenüber den politischen Erdrutschen der letzten Zeit, und, ich wiederhole es nochmals, obwohl wir Fehler gemacht haben und weitere machen, sehen wir, daß unsere theoretischen-praktischen-methodologischen Vorschläge sich auch heute bewähren. Und das trotz aller Wellen, die unserem Schiff „Vermenschlichung der Welt“ (Anm. Paulo Freire nennt das „gentisar“, H. Schulze) entgegenschlagen. Wir werfen nicht das Handtuch, sehen auch überhaupt nicht ein, aus dem „Ring zu steigen“ und die Einladungen anzunehmen, sich doch auf das „Machbare“ zu beschränken und auf die Grundwerte und die politische Dimension der Pädagogik zu verzichten.

Es wird darüber viel geschrieben, daß all dies in den 70er Jahren gut und richtig gewesen wäre, aber heutzutage solle man sich politisch korrekt verhalten, auf Aspekte wie Gesellschaftsveränderung „und all das“ verzichten, im Sinne einer „Post-Modernität“ einen Mix aus vielen pädagogischen Vorstellungen machen und die „eigentlich guten Ideen Dinge von Paulo Freire“, besonders im Bereich der Methoden, behalten und all das wie „Dialektik“, „die politische Dimension in der Pädagogik“, die „Option für die Unterdrückten“, den methodologischen Ansatz mit dem Primat der Praxisveränderung etc. zu vergessen. Um ermessen zu können, was das bedeuten würde, ist es angebracht, ein wenig mehr hinter diese Grundvorstellungen zu schauen:

Der methodologisch-theoretische Vorschlag in der Volkserziehung

Die methodologische-theoretische-dialektische Dimension ist ein wichtiges Charakteristikum der Volkserziehung.

Die Betonung liegt auf dem Ausgangspunkt der „sozialen Praxis“ der Betroffenen und am (Bildungs)-Prozeß Beteiligten. Der Ausgangspunkt ist natürlich nicht der Endpunkt. In dem gemeinsamen Prozess, der mehr ist ein „Bildungsprozess“ werden Erfahrungen gemacht, diese systematisiert, kontrovers diskutiert, mit Konzepten anderer Erfahrungen verglichen, etc. All das heißt: Theoriearbeit ausgehend von der Praxis und nicht über die Praxis zu machen. Wir haben da ein Bild vor Augen, das wir „dialektische Spirale“ nennen.

All das ist natürlich nichts Neues, und, wenn es so stehen bleiben würde, wäre der Vorwurf berechtigt, das sei eine sehr vereinfachende Darstellung der Dialektik. Das Reden von einer „dialektischen Arbeit“ ist praktisch „allen“ linken sozialen Bewegungen und Parteien in Lateinamerika eigen, aber nur wenige haben im guten Sinne danach gearbeitet. Es geht nicht, Dialektik auswendig zu lernen und wiederzukaufen, die Universitäten, die „Kaderschulen“ haben aus der Dialektik eine metaphysische Angelegenheit gemacht.

Wie kann man Dialektik aber innerhalb eines traditionellen Curriculum lehren? Wie ist es möglich, Demokratie zu lehren mit vertikalen Methoden und wie ist es möglich, die Wirklichkeit – wie sie ist – innerhalb eines soziologischen Labors kennen zu lernen? Was wir kritisieren ist die fehlende Einheit bei denen, die „dialektisch“, progressiv, für Veränderungen offen, etc. reden, aber in ihrer Praxis (Arbeit und Leben) inkonsequent, theoretisierend, dogmatisch und autoritär sind.

Die MitarbeiterInnen in der Volkserziehung machen Fehler, wir haben Probleme, aber generalisierend möchte ich betonen, dass wir uns bemühen, von der Wirklichkeit ausgehend, mit demokratischen Formen und einer „Pädagogik der Hoffnung“ zu arbeiten, zumindest mehr als Andere, die nach anderen, traditionellen Ansätzen arbeiten.

Volkserziehung arbeitet weiterhin mit den geschwächten und gebeutelten Organisationen der Basis zusammen. Wichtig ist, dass hier neue Organisationen entstanden sind, z.T. gerade mit der Unterstützung des „Handwerkzeugs“ der Volkserziehung, um Antworten auf heutige Probleme zu geben. Diese Organisationen sind für uns keine Studienprojekte, sie werden nicht von außen geleitet, sondern sie werden durch uns s von innen unterstützt und begleitet.

Als MitarbeiterInnen in „Bildungszentren“, in Nichtregierungsorganisationen sind wir in unserem Stadtviertel, im Engagement des Umweltschutzes usw.. „Basis“, aber in der Arbeit mit Basisgruppen sind wir nicht „innerer Teil“ dieser Gruppen (alleinerziehende Mütter, die Analphabetinnen sind, indigene Organisationen), sondern unterstützen diese – aber nicht „mit Handschuhen und Masken, um uns nicht anzustecken“( Paulo Freire), sondern von innen, mit einer kritisch-solidarischen professionellen Haltung.

Nicht Agitation oder eine spektakuläre Mobilisierung ist wichtig, sondern das „Er-Schaffen“, das „Ermöglichen“ von Bewußtsein im Zusammenhang mit der Praxis der Betroffenen, d.h. die „pädagogische Komponente“ ist sehr wichtig, aber nicht als „Erziehung“ und „Bewußtseinsbildung“ am Rande einer verändernden Praxis, wie einige aus den frühen Werken Freires herauslesen, sondern im Sinne einer guten dialektischen Methode um den Prozess: Praxis-theoretische Reflexion-Systematisierung (was mehr ist als eine kurze Auswertungsrunde) hin zu einer verändernden Praxis.

Innerhalb der Volkserziehung geht es darum, mittels einer kreativen und ernsthaften Didaktik die Lernenden, die „Bürgerinitiativler“ etc. zu Subjekten werden zu lassen nicht darum, dass sie als Objekte der PromotorInnen, PädagogInnen oder LeiterInnen etwas tun. Viele Projekte „machen“ auf „Partizipation“ indem sie mit „Gaben“ winken. Hier nehmen Frauen an Seminaren über Geburtenregelung teil, weil ein Kinderpatenschaftsprojekt das zur Bedingung macht, um Unterstützung zu bekommen), usw.

Interessant und wichtig ist es vielmehr, sich auf die Realität einzulassen, Elemente zu finden, die eine Übereinstimmung zwischen Reden und Tun ermöglicht. Diese Übereinstimmung ist Teil unseres Theorie-Rahmens (also unsere Prinzipien, Werte, Analysetechniken, Interpretationen, etc.), der mit unseren Zielen, Arbeitsansätzen und Aktionen „zusammenpassen“ muss.

Unter Methodologie verstehen wir nicht eine „Zusammenfügung aller Methoden“, sondern ist das WIE wir unsere Praxis „angehen“, um zu einer „verändernden Praxis“ zu kommen. Methodologie ist die Suche des logischen und übereinstimmenden Ausdruckes aller unserer Elemente, die in unsere Strategien, Pläne, Projekte und Aktionen intervenieren.

Die dialektische-methodologische Konzeption

Sie gibt unserer Arbeit einen wissenschaftlichen Halt und unterstützt das Prozeßhafte in unserem Tun.
Anders ausgedrückt: Innerhalb der „methodologischen-dialektischen Konzeption“ ist die Volkserziehung die PÄDAGOGISCHE DIMENSION des Prozesses, wobei weitere Aspekte wie die einer „lokalen nachhaltigen Entwicklung“ wichtig in einem Veränderungsprozess sind.

Als kleine Illustration soll das Beispiel einer herrlichen Symphonie dienen, die von Dutzenden von MusikerInnen mit unterschiedlichen Instrumenten gespielt wird. Mit der aktuellen Technik ist es möglich, jedes Instrument einzeln für sich oder eine bestimmte Gruppe von Instrumenten anzuhören, oder die Gesamtheit der Symphonie mit dem Gesamtorchester zu hören.

Die traditionelle Form einer Intervention ist, die „Instrumente einzeln einzusetzen“ – und so hören dann auch diese „Funktionalisten“ die „Symphonie der Realität“, d.h. sie bekommen durch ihren „Einzelblick“ gar nicht mit, dass es sich um eine Symphonie handelt. Das hat natürlich „Vorteile“ in dem Sinne, dass man sich nur für „seinen Bereich“ zuständig erklärt und nicht für das „Gesamte“ mit-verantwortlich ist.

In der konkreten Arbeit kann „Intervention“ verstanden werden als „Forschungsprojekt zum Unterthema A oder B“, als „unser Projekt zur Produktionssteigerung“, als „Alphabetisierungsprojekt in einem Stadtviertel“ etc. Für die Betroffenen stellt sich eine Intervention immer als „Teil“ ihres Lebens dar, es fehlt etwas. Mit einer dialektischen Methodologie erhalten sie und wir die Elemente zu einer integralen Sicht und Herangehensweise.

Dialektisch zu arbeiten heißt natürlich nicht, immer nur den Wald zu sehen, natürlich ist, wenn es angebracht ist, auch wichtig, Einzelaspekte zu betonen, also mal das Instrument „Forschung“, oder „Pädagogik“ oder „lokale Entwicklung“. Dieses aber -und das ist der Unterschied zu denjenigen, die „nur“ ihr Projekt sehen, innerhalb einer Einheit und eines Rhythmus, der den „MitspielerInnen“ taugt, wo immer wieder der Gesamtzusammenhang gesehen und hergestellt wird.

Können die alten Sünden überwunden werden?

Alle werden zustimmen, wenn gesagt wird, dass eine Planung – sei es für das Schulcurriculum, für eine Vorlesungsreihe an der Universität, für eine politische Kampagne – „logisch“ sein soll. Aber, wo werden die einfachsten lernspezifischen Regeln beachtet, wie: „Vom Einzelaspekt zum Generellen“, „vom Konkreten zum Abstrakten“ zu gehen?

Hat das damit zu tun, dass bei der Vorherrschaft des Funktionalismus und Positivismus die real existierende akademische Welt das „Wissen“ zwar erweitert und vertieft, dass aber diejenigen, die damit umgehen müssen, erkennen, dass sie als „ExpertInnen“ gegenüber dem Fortschreiten des Kapitalismus mit seiner neoliberalen Ideologie nichts entgegensetzen können, also unnütz sind angesichts der Zunahme von Armut, Ausgrenzung und Fortschrittsrisiken?

Mehr vom bisherigen (Falschen) zu tun ist auch keine Lösung. Und so kann die Lösung nicht heißen, weiterhin Seminare, Kongresse, Versammlungen etc. zu organisieren, die mit der bisherigen, ausgetretenen „Liturgie „ ablaufen: Vorträge-Rückfrragen-Selbstdarstellungen usw.,, Wenn es keinen „Zugewinn“ für die Teilnehmerinnen gibt, wo zu oft die Ideologie über wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse dominiert.

Die Vorherrschaft des Nordens -sei es aus dem kapitalistischen oder sozialistischem Lager – hat es mit sich gebracht, dass solche langweiligen, überfrachteten, zur Selbstdarstellung benutzten, oft polemischen Formen bei uns als „normal“, „korrekt“ usw. angesehen wurden, teilweise durch starre Ablaufformen noch zur Karikatur verformt.

Wenn wir nun sagen, dass es uns schwer fällt, diese Formen zu ändern, so ist das ein erstes Eingeständnis unserer Schwäche oder unserer Angst, es „falsch“ zu machen, „Zuhörer“ zu verlieren, die angeblich „sowas“ wollen. Wenige geben zu, dass, wenn sie diese ausgetretene Pfade, blumigen, intelligenten Nichts-Sagens verlassen, sie ihre Privilegien verlieren könnten.

Es gibt nun immer mehr überzeugende Beispiele, die sich diesen Herausforderungen stellen, anders wissenschaftlich, pädagogisch und theoretisch zu arbeiten. Dieses spricht sich auch mehr und mehr herum, wird verstärkt auch als „neue Norm“ akzeptiert. (Anm: Aber die Kritik bleibt: Ein Referent muss „referieren“, halt so, wie ein Hund bellen muss – sonst taugt er oder sie nichts, H. Schulze).

Die Herausforderung, Pädagogik „anders“ zu machen, beinhaltet sofort epistomologische und methodologische Probleme. Wir müssen uns entscheiden, entweder bei den überlieferten, von den Eroberern von gestern und heute eingeführten Formen und Inhalten zu bleiben, oder wir machen die Augen auf und schauen auf unsere eigene Geschichte, eigene Realität und bauen von dort in einer uns angemessenen Form unsere eigenen Alternativen mit unseren eigenen Werten, unserer eigenen Kultur, mit unseren eigenen Instrumenten, innerhalb unserer eigenen Widersprüchlichkeit, mit Blick auf die globalen Strukturen, die natürlich auch unsere wirtschaftlichen Möglichkeiten (mit)-bestimmen.

Wenn wir dieses betonen, geht es uns überhaupt nicht um chauvinistische Haltungen. Natürlich sind die universellen Erkenntnisse, die Beiträge der Geschichte uns aus den unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten wichtig. ich glaube aber nicht an geniale Lösungen, die aus dem Nichts entstehen. ich glaube an die Notwendigkeit und an die Möglichkeiten mit unseren eigenen Augen das Eigene und Fremde zu sehen und selbst Entscheidungen zu fällen, was gut für uns ist und das zu integrieren, was uns taugt. Dabei ist die Frage nicht: Woher kommt das, sondern: Wem taugt das, für wen bringt es wirklich Vorteile? Wer verliert daran, ist es ein Weg, die Zukunft nachhaltig zu sichern, etc.

Wer nicht einmal diese einfachen Fragen stellt, wird schwerlich gute Lösungen finden.


„Gute Nachbarn der Volkserziehung“

Die Volkserziehung hat keinen Absolutsheitsansprich. Es gibt viele Ideen und Ansätze und mit vielen VertreterInnen dieser arbeiten wir gut zusammen, bzw. sind KollegInnen:

* Die Theologie der Befreiung

ist hier zu nennen mit den wichtigen Gemeinde-Basis-Gruppen, mit Personen wie Gustavo Gutierrez, Frei Betto etc.,

* die Kommunikation (comunicación popular)

ist eine weitere „Schwester“, die Agitation und Propaganda ablehnt (womit leider viele rechte und linke Gruppen ihre Manipulation, Dogmatismus und Entfremdung „überdeckten“ und überdecken im Interesse des „ideologischen Kampfes für das rückständige Volk“).

Die „comunicación popular geht über den Ansatz einer „alternativen Kommunikation“ hinaus, weil letztere weiterhin mehr re-aktiv ist, auf die herrschende Kommunikation re-agiert, um diese zu bekämpfen. Das ist wichtig, aber für diejenigen, die in der „comunicación popular“ tätig sind, setzen verstärkt auf eine aktive Position, aktivieren, motivieren und unterstützen Vorschläge im Rahmen einer verändernden Praxis. Für uns ist die Beziehung: Bildung/Erziehung und Kommunikation besonders wichtig: Es gibt keine kommunikative Arbeit, die nicht pädagogisch ist.

ALFORJA und die Betonung des integralen Ansatzes

Wir in ALFORJA (Netz von Zentren der Volkserziehung von Mexiko bis Panama) betonen:

Die Realität ist „EINE“, sie ist umfassend, widersprüchlich, komplett. Es gibt nicht verschiedene Wirklichkeiten. Deshalb muß die Sichtweise und die Arbeit an und in dieser Realität „ganzheitlich“, integral sein. Das ist schwieriger, als, wie gemeinhin üblich, die Realität in Teilbereiche aufzuteilen. In der Wirklichkeit der Menschen sind die verschiedenen „Dimensionen“ des sozialen Leb Lebens präsent und interagieren in diesem „Spiel“.

Da ist das Persönliche, das subjektive Empfinden, das Kulturelle, Ökonomische, Soziale, Religiöse, Politische etc. zu nennen – was sich mischt, immer in Bewegung und in Widersprüchen miteinander verwickelt. Geschichtliche Bedingungen und Überlieferungen geben Normen für das soziale Miteinander, sie stoßen sich mit globalen und individuellen Interessen.

Jetzt zu behaupten, die Volkserziehung hätte das alles „im Griff“, hätte „die“ Antwort darauf, das wäre falsch. Eine solche Antwort hat nicht die Frauenbewegung oder die Umweltbewegung, nicht die Friedensbewegung etc. Die Lösung ist jetzt nicht, die verschiedenen Bewegungen rechnerisch zusammenzubringen, sondern es muß in die Richtung gehen, dass all diese Bewegungen wie ein Zopf „zusammengeflochten“ werden, in einer integralen Form.

Dabei darf nicht alles in einem Zopf „verschwinden“, sondern die verschiedenen Farben der „Bewegungsstränge“ sollen sichtbar bleiben. Bedingung bei diesem Zusammenspiel ist, daß diese verschiedenen Bewegungen keine Angst vor guten Strategien haben dürfen, auf VeränderungsPROZESSE setzen und nicht nur auf punktuelle, kurzfristige Aktionen, ihre eigene Dynamik behalten, alle Bereiche des Lebens im Blick haben, wenn auch ihr spezieller Ansatz in einem bestimmten Bereich liegt.

Dabei dürfen die beteiligten Organisationen, Gruppen, Bewegungen das Thema der Macht nicht tabuisieren.

Innerhalb der bisher dargelegten Perspektive ist es deutlich geworden, daß es um einen anderen Blickwinkel beim Thema Macht geht: Die Macht muß mit, von und für die Mehrheit der Bevölkerung (el pueblo) aufgebaut werden.

Das Thema der „Macht“ ist ein zentrales Thema für uns und deshalb betonen wir, daß die Volkserziehung eine zutiefst politische Dimension hat. Die macht wird von uns nicht als eine „Sache“ angesehen, die es gibt und die „übernommen“ werden soll. Die Macht ist vorhanden, latent, agierend, zum Vorteil verschiedener Interessensgruppen… also dort, wo wir uns bewegen und handeln. Von daher ist die Meinung einiger Gruppen nicht richtig, „alles zu tun, damit keine Macht ausgeübt wird, weil Macht immer korrupt und dominant sei“…Wie ist diese Meinung wirklich in Einklang zu bringen mit Vorstellungen und Idealen einer Veränderung der ungerechten Strukturen?

All die Wissens-Aneignungs-Prozesse, Anstrengungen der Bewußtseinsbildung, die Stärkung sozialer Organisationen der Zivilgesellschaft etc. dienen im Bereich der Volkserziehung dazu, Macht auszuüben, was mit der Beteiligung der Bevölkerung an konkreten Aktionen beginnt.

Wenn die Leute Subjekt der Aktion, eines Projektes usw. werden, entwickeln sie ihre organisatorische Macht, oftmals im untergeordneten, „bescheidenen“ Raum, aber sie üben Macht aus. Es geht weiter darum, die vorhandenen „Freiraume“ (nach Paulo Freire) zu vergrößern und denjenigen, die unterdrückerische Macht ausüben, diese Machtfülle zu nehmen.

Wobei wir mit der Wortwahl sorgfältig umgehen müssen. Eine „Machteroberung“ ist kein spektakulärer Akt innerhalb einer bestimmten Konjunktur, sondern das Resultat ganzer Prozesse, das darin mündet, Regierungsgewalt auszuüben aber mit einer bewußten, kritischen Unterstützung der verschiedenen Organisationen. In diesem Prozeß hat die „kulturelle Identität“ eine wichtige Rolle.

Gemeint ist damit das vorhandene Wissen, die eigene Art zu denken, die Intuitionen in Verbindung mit fortgeschrittenen wissenschaftlichen Hilfen zu bringen, was von Gramsci gut dargestellt wurde. Die von ihm so genannten „organischen Intellektuellen“ sollen z.B., das empirische und symbolhafte Wissen der Bevölkerung verstehen, die kulturellen Ausdrucksmittel nicht als „Folklore“ abtun.

500 Jahre Widerstand gegen den Kolonialismus sind ein Beispiel dafür, daß die „Kultur des Volkes“ real ist, daß aber auch der Machismus real ist, daß die Unterdrückung durch die Männer, auch innerhalb der Familie, Teil dieser „Kultur“ ist. Und wir „Volkserziehungs-MitarbeiterInnen“ sind Teil dieser „Kultur“, wir sehen sie nicht von außen, wir bringen unsere Identität, die auch widersprüchlich ist, in diesen Prozeß ein.

Der Wert des Subjektiven:

Innerhalb der Volkserziehung sind die Aspekte: Subjektivismus, Entwicklung des Individuums, das Intime, das Kulturelle, Künstlerische, etc. von großer Bedeutung. Wir halten gar nichts davon, daß diese Aspekte aus vielen sozialen Bewegungen ausgegrenzt werden, weil sie mit dem „Hauptgegenstand“ nichts zu tun haben, weil unterdrückerische Führer in Organisationen damit nicht umgehen können. Und so wurden und werden sie immer noch schnell als „kleinbürgerliche Abweichungen“ oder, typisch, „Frauensachen“ abgetan.

Es ist noch in vielen Gruppen leider so, daß das „Persönliche“ stört, daß es gilt, „Härte“ zu zeigen, Freude am Engagement wird als Schwäche angesehen. Das schlägt sich auf das Gruppenklima und die Arbeitsform nieder. Wer sich für die Wichtigkeit subjektiver Aspekte in der politischen Arbeit ausspricht, spricht sich doch nicht für eine „Politik-Light“ aus, wie viele Frauengruppen, engagierte Kirchengruppen, Organisationen indigener Völker, Nachbarschaftskomitees oder Frauen-Gemeinschaftsküchen in Elendsvierteln, Umweltgruppen, Gruppen ethnischer Minderheiten, Kulturgruppen usw. zeigen.

Engagement – Disziplin – Verzicht gehört dazu, wie die berechtigte Hoffnung, etwas zu bekommen. Freude, Anerkennung, Befriedigung der Grundbedürfnisse, Liebe… Engagierte im Bereich der Volkserziehung lieben das Leben, haben Freude an Festen und sind keine Masochisten.

Fehler überwinden – optimistisch bleiben

Wenn auch immer wieder in den Zeilen die Begeisterung für das Engagement im Bereich der Volkserziehung durchscheint. In keinster Weise nehme ich eine triumphalistische Haltung ein, alles schon immer besser gewußt zu haben und deshalb auf andere herabsehen zu können. Wir alle haben den Aufstieg der neoliberalen Ideologie mit allen brutalen Auswirkungen bisher nicht aufhalten können. Wir sind nicht die „Besten“, nicht die „einzigen Guten“ und alle müssen wir die vorhandenen Schwächen überwinden, die z.B., sind:

– Wir re-agieren noch viel zu viel und es fehlen in unseren Aktionen, in unserem Tun, in unseren Zentren oder Nichtregierungsorganisationen konkrete Veränderungspläne.

– Lange Zeit wurde die „formale Bildung“, die Schule als uneindringlicher Bereich der Volkserziehung angesehen, als „ideologische Reproduktionsanstalt des herrschenden Systems“. Heute wird verstärkt in und mit Schulen gearbeitet, weil sich auch hier Personen engagieren, weil auch hier Veränderungsanstrengungen sichtbar sind.

Vielen unserer KollegInnen fehlt die TOLERANZ, um gemeinsam zu arbeiten, um gemeinsam an etwas zu arbeiten. Aufgrund von äußeren Bedingungen wie finanzielle Unterstützung von außen, „Besitzdenken“ etc. hört man noch zu oft: „Meine Rolle“, „meine Basis“, „mein Projekt“, „mein Geld“… die notwendige Toleranz fehlt auch vielen der „wissenschaftlichen BegleiterInnen/ForscherInnen“, die ihr „Prestige“ und damit neue Aufträge auch damit erreichen indem sie andere „wissenschaftlich“ angreifen, aber, mit der Begründung, daß sie als ForscherInnen angeblich „neutral“ sein müssen, sich in der Praxis die „Hände nicht schmutzig machen“.

Kritik ist wichtig und nötig, wissenschaftliche, kritische Begleitung ist wichtig und nötig – sie sollte aber mehr unterstützen als unterdrücken.

Angesichts der großen Probleme, die es zu bewältigen gibt, haben sich andere Projekte auf ihre „Mikroebene“ eingerichtet, machen ein begrenztes Projekt. Das ist dann auch Finanzgebern (besonders wichtig bei ausländischen Finanzgebern, die punktuell unterstützen, die keine Prozesse unterstützen) gegenüber leicht „vorzeigbar“. Was dabei schade ist, daß sie sich weigern, in größeren Dimensionen zu denken, ihre Ideen in die sozialen Bewegungen einzubringen.

Eine oft zu hörende Begründung dafür ist:“ Wir sind bei den Leuten und ihren Bedürfnissen. Wir helfen mit, konkret die Probleme anzugehen. Alles andere ist pure Zeitverschwendung“… Hier fehlt die Vorstellung, die eigene Arbeit in einen Veränderungsprozeß einzubringen, oftmals ist es auch eine Reaktion auf frühere Erfahrungen, politisch ausgenützt worden zu sein und sich jetzt „daraus“ rauszuhalten. „Sollen sich die anderen doch in politischen Diskussion zerfleischen, wir machen bei diesem schmutzigen Spiel nicht mit“…

Weiterhin gibt es die Richtung des „Pädagogismus“. Damit sind diejenigen gemeint, die von der Volkserziehung „überzeugt“ sind oder in sie oder ihre Formen „verliebt“ sind. Sie machen interessante Seminare, aber ohne zu schauen, in welcher Veränderungsstrategie diese angesiedelt ist, was für die Praxis „rauskommen“ soll. Ihre Treffen und Seminare sind ihre „alternative Politik“. Sie sind außerhalb der wirklichen Prozesse der Organisationen und der konkreten Politik. BefürworterInnen dieser Richtung hinterfragen sehr stark die politische Dimension der Volkserziehung, ohne die unserer Meinung nach ihr Fundament verliert und irgendeine pädagogische Strömung wird.

Wir möchten all diejenigen, die angesichts der schwierigen Zeit verzweifeln, aufmuntern, die Krise auch als Chance zum freien Denken zu nutzen. Im Prinzip zeichnen wir LateinamerikanerInnen uns doch aus, gegen jede Vernunft Optimisten zu sein, enthusiastisch Sachen anzupacken.

Seien wir in diesem Sinne LateinamerikanerInnen, denn die Hoffnung ist nicht gestorben!

(Quelle: Carlos Núnez Hurtado. Permiso para pensar… Educación popular: propuesta y debate. IMDEC, Guadalajara, Mexiko, 1995).

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