I. Leben
Paulo Freire wurde am 19.9.1921 in Recife, im Nordosten Brasiliens, in einer Mittelschichtfamilie geboren, die im Rahmen der Weltwirtschaftskrise die Probleme aller, d.h. Hunger und Niedergang, erlitt. Er studierte am Heimatort Rechtswissenschaft, schloss 1959 mit der Promotion ab und arbeitete als Rechtsanwalt, wobei er sich bereits zu dieser Zeit mit Fragen der Erwachsenenbildung beschäftigte.

1961 begann er auf Vorschlag des Bürgermeisters von Recife, sich mit dem Problem der Alphabetisierung zu beschäftigen, und entwickelte einen Ansatz, den er sukzessive auf weitere Gebiete Brasiliens – bis hin zur gesamtstaatlichen Ebene – übertrug.

Nach dem rechten Militärputsch wurde er 1964 für 70 Tage ins Gefängnis gesteckt und dann gezwungen, ins Exil zu gehen. Während dieser Zeit lebte er in Chile (wo er sein wichtigstes Werk, die PÄDAGOGIK DER UNTERDRÜCKTEN, schrieb), in den USA und in der Schweiz (beim Weltkirchenrat), außerdem koordinierte er Alphabetisierungsprojekte in Tansania, Guinea-Bissao, Angola, Mosambik, Sao Tome und Principe.

1980 kehrte er nach Brasilien zurück, um dort an Universitäten zu unterrichten und später in Sao Paulo als Erzziehungsminister zu arbeiten. Paulo Freire starb am 2. Mai 1997 im Alter von 75 Jahren.

2. Werk

Freires Verständnis von Erziehung und Bildung als eines wesentlich politischen Projektes, das auf die Transformation der Gesellschaft gerichtet ist, hat pädagogische und soziale Bewegungen in der ganzen Welt beeinflusst …

Seine pädagogische Konzeption geht von einer tief empfundenen Ehrfurcht und Demut vor dem armen und unterdrückten Volk aus und ist vom Respekt vor seinem „gesunden Menschenverstand“ getragen, der Freires Auffassung nach ein nicht weniger wichtiges Wissen begründet als das wissenschaftliche Wissen des Professionellen.

Solche Bescheidenheit verkörpert das gegenseitige Vertrauen und der Austausch zwischen dem Erzieher, der im Lehren lernt, und dem Schüler, der ebenfalls lehrt. Auf diese Weise gerät der Bildungsprozeß zu einer „Zwiesprache“ zwischen den an ihr Beteiligten in einem wechselseitig anregenden Dialog und ist damit eine Alternative zum traditionell einseitigen Handeln des einen zum Wohle des anderen…

Der Lehrer soll nicht neutral sein, sondern in die pädagogische Situation dergestalt eingreifen, dass er dem Schüler hilft, seine Sichtweisen von der Welt, die ihn lähmen, zu überwinden, und ihm kritisches Denken beibringt.

Gegen das „Bankiers-Konzept der Erziehung“
Freire kritisierte die vorherrschenden Erziehungsformen, weil sie den zu Erziehenden den Status von passiven Objekten zuweisen, die von den Lehrern zu bearbeiten (traktieren) sind. In dieser traditionellen Form von Erziehung ist es die Aufgabe des Lehrers, die Informationseinheiten, die Bildung konstituieren, in den Köpfen der Schüler zu deponieren, die – in völliger Verkennung des wahren Sachverhalts – als leer erachtet werden.

Freire bezeichnete dies als das „Bankiers-Konzept“ der Erziehung. Ziel des Bankiers-Konzeptes ist es, die Menschen durch Konditionierung in die herrschenden Machtzusammenhänge einzupassen, damit sie akzeptieren, dass nur die Unterdrücker über das Eigentum an Sinn und historischer Gestaltungskraft verfügen…

Im Bankiers-Modell von Erziehung und Bildung wird das Wissen als Gabe (analog zur Spareinlage) begriffen, die dem Schüler vom Lehrer überreicht wird. Diese falsche Generosität seitens der Unterdrücker, die offensichtlich darauf zielt, die Unterdrückten zu integrieren und zuzurichten, ist in Wirklichkeit das entscheidende Medium von Herrschaft.

Die problemsetzende Methode Freires
Gegen das Bankiers-Modell setzte Freire eine dialogische, problemsetzende Methode der Erziehung und Bildung. In diesem Modell werden Lehrer und Schüler gemeinsam die Erforscher von Wissen und Welt. Statt den Schülern zu suggerieren, ihre gesellschaftliche Lage sei durch Natur- oder Vernunftgründe vorherbestimmt, wie es das Bankiers-Modell tut, lädt Freires problemsetzende Erziehung bzw. Bildung die Unterdrückten dazu ein, ihre Wirklichkeit als ein „Problem“ zu untersuchen, das zu lösen ist.

Inhalt wie Gehalt dieser Erziehung/Bildung können nicht durch die Erfahrung des Erziehers im voraus bestimmt werden, sondern müssen aus der gelebten Realität des zu Erziehenden erwachsen. Es ist auch nicht die Aufgabe des Erziehers, Antworten auf die Probleme zu geben, sondern den Schülern zu helfen, eine Form des kritischen Denkens (oder der Bewusstseinsbildung) zu erreichen, die es ihnen ermöglicht, die Gesellschaft als veränderbar aufzufassen. Wenn es den Schülern möglich wird, die Welt als eine transformierbare Grenzsituation zu erfahren, statt sie zu einem unvorstellbaren und unentrinnbaren Geschick zu verdinglichen, vermögen sie es, sich eine neue und andere Wirklichkeit vorzustellen…

Dies setzt voraus, dass die Fetischisierung des Wissens als eines elitären Wissens überwunden wird zugunsten eines Wissens, zu dem Schüler wie Lehrer vermittels ihrer gemeinsame hergestellten Beziehung gemeinsam gelangen. Menschliche Beziehungen sind, mit anderen Worten, selbst schon pädagogisch gehaltvoll.

Dieses produktive Verständnis von Dialog, Kommunikation und sogar (pädagogischem) Eros wird in Freires Rede von der „bewaffneten Liebe“ deutlich, die mehr als ein guter Wille oder bloßes Gefühl sein will, sondern vielmehr die Bereitschaft des Lehrers enthält, in den gemeinsamen Kampf zur Überwindung des bestehenden Unterdrückungssystems einzutreten.

Die konkrete Grundlage von Freires dialogischem Erziehungs- und Bildungssystem stellt der Kulturkreis dar, in dem Schüler und pädagogischer Koordinator miteinander Leitmotive abhandeln, die im leben der Schüler von Bedeutung sind. Diese Themen, die mit Natur, Kultur, Arbeit und sozialen Beziehungen zu tun haben, werden durch das gemeinsame Forschen von Lehrern und Schülern erst entdeckt bzw. ermittelt. Sie bringen in einer offenen – anstatt der üblichen propagandistischen – Manier die grundsätzlichen Widersprüche die grundsätzlichen Widersprüche in der Welt der Schüler zum Austausch.

Danach werden die Themen in kodifizierter Gestalt (üblicherweise visuelle Repräsentationen) vorgestellt und als Ausgangspunkt für den Dialog… genommen. Indem die Schüler die Repräsentationen entschlüsseln, erkennen sie sie als Situationen, in die sie selbst als Subjekte verwickelt sind…

Obwohl sich dieses Kodifizierungssystem bei der Förderung der Erwachsenen-Alphabetisierung als sehr erfolgreich erwies, hat Freire immer wieder gemahnt, es nicht mechanisch anzuwenden, sondern als eine Methode der Bewusstseinsschaffung und –förderung… Der Lese- und Schreibfähigkeit kommt somit die Bedeutung einer „Selbsttransformation“ zu, die eine Einstellung zur Einmischung hervorbringt.

Alphabetisierungsprogramme, die Teile von Freires Methode übernehmen, aber die Politisierung – nämlich des Verständnis der Welt als einer zu transformierenden Grenzsituation – vernachlässigen, zerstören und verkehren die Alphabetisierungsbemühung. Für Freire hat echte Bildung stets eine „Praxis der Freiheit“ statt eine entfremdende Einimpfung von Fertigkeiten zu sein.

Seine Bildungstheorie stellt keine einfach Methode, sondern einen gestuften Weg zu politischer Bewusstseinsbildung dar. Die Herrschaft weniger Menschen über die Mehrheit ist seiner Ansicht nach zu überwinden, damit die Humanisierung aller stattfinden kann. Autoritäre Erziehungsformen behindern die menschliche Befreiung, indem sie die Wirklichkeitsauffassung der Unterdrücker und ihre materiellen Privilegien verstärken.

Praxis – Prozess von Aktion und Reflexion
Das Mittel zu solcher Befreiung besteht in einer Praxis oder einem Prozess von Aktion und Reflexion, der die Realitäten benennt und zugleich darauf gerichtet ist, sie zu verändern…
Diese dialektische Einheit bringt seine Formulierung zum Ausdruck: „Ein wahres Wort auszusprechen bedeutet, die Welt zu verändern.“

Die pädagogische Arbeit Freires stellt auch den Versuch eines großen politischen Denkers dar, sich eine realisierbare und demokratische sozialistische Revolution vorzustellen. Die Aufmerksamkeit, die wir Freires Beitrag auf pädagogischem Gebiet zukommen lassen, sollte den Anteil seines Werkes an der revolutionären antiimperialistischen Anstrengung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht verdecken…

So ist die Befreiungspädagogik Freires vom ersten Augenblick an damit verbunden, innerhalb dieser Spaltung des sozialen Feldes Partei zu ergreifen, eine Wahl zu treffen, ein Bündnis einzugehen, das eigene Los mit dem der Unterdrückten zu verknüpfen…

Die Unterdrückten werden nicht durch irgendwelche undefinierbaren, nebulösen, abstrakten oder ungreifbaren Verhältnisse ausgebeutet, überrollt und schließlich zerstört, sondern durch die sozialen Beziehungen, die die Menschen unter die Herrschaft des Kapitals zwingen…

Freire lehnte elitäre und sektiererische Ansichten vom Sozialismus ab; er favorisierte dagegen eine Revolution „von unten“, die auf der Arbeit autonomer Organisationen des Volkes basiert…
Die Originalität Freires besteht in seiner …

Kunstfertigkeit, verschiedene philosophische und politische Traditionen zu integrieren und ihren pädagogischen Bezug herauszuarbeiten. So inspirierte die Hegelsche Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft sein Bestreben, die Bildung von autoritären Formen zu befreien, so ermöglichte der Existentialismus Sartres und Bubers seine Beschreibung des von den Unterdrückten selbst initiierten Transformationsprozesses in einen Raum radikaler Intersubjektivität;

so beeinflusste der historische Materialismus von Marx seine Auffassung von der Historizität gesellschaftlicher Beziehungen, so erinnert Freires Hervorhebung der Liebe als einer notwendigen Voraussetzung echter Bildung an die radikale Tradition der christlichen Theologie…Die menschliche Einbildungskraft… ist nach Freires Meinung zu einer radikalen und produktiven Vision fähig, die die Grenzen des Gegebenen überwindet…

In dieser genuinen Fähigkeit besteht unsere Menschlichkeit, unser Menschsein, daher kann sie nicht die Gabe des Lehrers an den Schüler sein, sondern Lehrer-Schüler und Schüler-Lehrer müssen zusammenarbeiten, um die Phantasie anzuregen, Vorstellungen von einer neuen Gesellschaft zu erzeugen.

Kritik
Seit ihrem ersten Bekanntwerden ist Freires Bildungstheorie von verschiedenen Seiten kritisiert worden. So waren Konservative, die einem revolutionären Projekt nicht wohl gesonnen sind, schnell dabei, es als demagogisch und utopisch abzutun… Es gab Marxisten, denen die christlichen Einflüsse in seiner Arbeit nicht gefielen und die seine Konzipierung des Alltagsbewusstseins für zu idealistisch hielten…

Durch seine… Abwendung von den… Kammern des offiziellen Wissens und seine Zuwendung zum offenen Raum von Menschlichkeit, Geschichtlichkeit und Poesie… weist Freire LehrerInnen und anderen, die sich angesichts der wachsenden Inhumanität der uns einschließenden gesellschaftlichen Ordnung verweigern, den Weg.

An diesen Raum zu glauben, auch wenn ständig versucht wird, ihn zu verschließen, zu verdunkeln, zu verschütten oder aus der Welt zu schaffen, bleibt die Pflicht von wahrhaft fortschrittlich orientierten LehrerInnen. Freires Werk bleibt unverzichtbar, wenn es darum geht, das Konzept einer demokratischen und befreienden Erziehung und Bildung zu entwickeln…

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