In meiner Altöttinger Kindheit bewunderte ich die bootsähnlichen Krankenfahrstühle auf Fahrradreifen, in denen sich die Kriegskrüppel ohne Beine wie mit Rudern fortbewegten und die Kapelle umrundeten. Sicher zum Ärgernis meiner Eltern, hatte unser Vater an der Ostfront doch nur einen Fuß verloren und kaschierte das mit Prothese und Stock sehr gut, um nicht als Krüppel zu erscheinen.
Das Wort Krüppel hatte ich viel später über die Krüppelbewegung der AG SPAK schätzen gelernt, damals war es die peinliche Verschwiegenheit, die um das 3. Reich und die Kriegsereignisse aufgebaut war. Nur leise versuchten unsere Eltern die Orientierung auszutauschen, wer in Altötting ein Nazi gewesen war, denn sie kamen erst in den 50er Jahren in die Stadt, und es klang wie eine Bedrohung. „Der Perr war doch auch ein Nazi?“ vergewisserte sich Mutter über einen Lehrerkollegen des Vaters, und meine kindliche Nachfrage „Was ist ein Nazi?“ wurde wie so oft abgetan: „Das verstehst du noch nicht!“
So sollte es auch bleiben, denn das Wort tauchte immer weniger auf, und im Lauf der Jahre habe ich mich daran gewöhnt, dass unsere Eltern keine Jugend und keine Vorgeschichte unserer Kindheit hatten. Ein paar Bilder der Hochzeit waren im alten braunen Familienalbum, die Hochzeitsreise ins Chiemgau, und ein paar Bilder waren über Jahrzehnte verschwunden: Mutter als junges Mädchen mit BDM-Binde (beim BDM -Bund Deutscher Mädchen- haben wir nur sticken gelernt). In der katholischen Jugend wurde dann gegen Hitler gebetet, Pater Delp und diverse Widerständige waren ihr Münchner Umfeld gewesen.
Das Verschweigen lag über der ganzen Stadt: Die Verwicklungen des Klerus in das reaktionäre Gestrüpp waren weniger Thema als die sexuellen Verfehlungen in den Klöstern, von denen viele Gerüchte im Umlauf waren. Die Freundlichkeit im Umgang täuschte in allen Begegnungen darüber hinweg, doch war die Fassade nicht nur bei den Geschäftsleuten durchsichtig: Kaum war ein Gespräch zu Ende, oft noch formal mit einer Besuchseinladung versehen, kamen die entsprechenden Auswertungen, und in all den Jahren waren äußerst selten Bekannte zu Besuch, auf einen Kirschlikör.
Als mit der Olympiade auch bei uns der Farbfernseher einzog (vorher gab’s nur Radio) wurde die Tagesschau zur vierten Zeitansage, die den Tagesrhythmus der pünktlichen Mahlzeiten ergänzte. Die abendlichen Spaziergänge mit den Eltern wurden knapper, die Filmreihe Shoa schreckte irgendwann das Schweigen auf: Das haben wir nicht gewusst, das hätte auch Kriegspropaganda sein können … -vergangenheit-viele-erinnerungen-kriegsende
Was bleibt: Das sozial vererbte Mißtrauen gegen Fremde und die Abneigung zu freundlich-überflächlichem Small-Talk.
Neueste Kommentare