Hegemonie bilden. Pädagogische Anschlüsse an

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Antonio … im Diskurs um transformatives soziales Handeln für mehr soziale Gerechtigkeit. …

Italiens bekannteste Figur, wenn es um die Theoretisierung der Reflexion sozialen Handelns geht und darum, den Praxisbegriff ins Zentrum zu stellen, der zur Transformation führen soll.

Antonio Gramsci

Künstlerische grafische Gestaltung eines Foto von Antonio Gramsci

Darin: (S. 64: Peter Mayo: … educational politics of decolonisation Kolonialismus Befreiungspolitik)  Dank an Karl!


Gramsci, der Kolonialismus und die Befreiungspolitik – Peter Mayo

Der Text basiert in Grundzügen auf einem Beitrag von Peter Mayo mit dem ursprünglichen Titel „Antonio Gramsci, Paulo Freire and the educational politics of decolonisation“, der in einer ersten Fassung von Mara Rogge übersetzt und von Jan Niggemann gekürzt und redaktionell bearbeitet wurde. Er ist in dieser Form nicht veröffentlicht worden, sondern wurde im Band Critical Education under Siege (Masalha/Mayo/Silwadi 2021) verarbeitet.


Gramscis umfangreiche, im Gefängnis entstandene Arbeit zur Philosophie der Praxis dient als Ideenquelle für strategisches politisches Handeln in sehr unterschiedlichen Bereichen, einschließlich der dekolonisierenden Bildung.

Philosophie der Praxis ist nicht einfach nur eine Phrase zur Umgehung der Gefängniszensur, sondern steht im Mittelpunkt von Gramscis Denken und Forschen, wenn er nach den historischen und geografischen Bedingungen fragt, die zur damaligen politischen und sozialen Situation Italiens geführt hatten. Ebenso prägte sie seine Vorstellung davon, welche Richtung das Land einschlagen sollte.

Jede Situation wird von einer glokalen Perspektive aus betrachtet, in der das Besondere in einem breiteren globalen Kontext gesehen und reflektiert wird, und umgekehrt. Stuart Hall gilt als einer der wichtigsten von Gramsci inspirierten Gelehrten, der viel dazu beigetragen hat, einige der Konzepte des Sarden für eine Analyse der britischen Politik in Bezug auf race und Dekolonisierungsstrategien zu aktualisieren. Er schreibt:

„Diese Begriffe sind ‚epochal‘, was ihre Reichweite und ihr Bezugssystem angeht. Aber Gramsci wusste, dass ein Theoretiker gezwungen ist, von der Ebene der ‚Produktionsweise‘ auf konkretere Bedeutungsebenen herabzusteigen, sobald er diese Begriffe auf spezifische historische Gesellschaftsformationen, auf konkrete Gesellschaften, die sich in einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kapitalismus befinden, anwenden will“ (Hall 1989, S. 59).

Dieser Beitrag basiert auf der Annahme, dass Kolonialismus und Neokolonialismus vielfältige Formen und Problemstellungen annehmen können und dass sie die „heterogene Menge“ subalterner „Subjektpositionen“ adressieren (Slemon 1995, S. 45). Ausgehend von einer früheren Arbeit (Mayo 2015) werde ich mich in meinem Beitrag auf zwei Aspekte beschränken: (a) Die gramscianischen Konzepte von Hegemonie und dem, was ich als „deplazierte Allianzen“ bezeichne (Mayo 2016).

Beides werde ich mit Paulo Freires Konzepten eines „Bewusstsein der Unterdrückten“ und der „kulturellen Invasion“ in Beziehung setzen. (b) Die sehr komplexe Problematik der Sprache in einer postunabhängigen, postkolonialen Situation. Diese Aspekte spielen vor allem in jenen Kontexten eine herausragende Rolle, in denen der direkte Kolonialismus (Said 1994, S. 8) gekennzeichnet ist durch die Anwesenheit einer Besatzungsmacht, und folgend der Neokolonialismus und, um Gramscis Perspektive zu übernehmen, der interne Kolonialismus (Gramsci 1997) ihre Präsenz oft grob und äußerst gewalttätig spürbar machen.

Ein Schlüsseltext Gramscis, den viele Autor:innen für ihre Überlegungen zu Kolonisierung und Abhängigkeit nutzten, ist der abgebrochene Essay Einige Gesichtspunkte zur Frage des Südens von 1926 (vgl. die deutsche Übersetzung von Neubert 1991). Die Frage der Abhängigkeit ist häufig in der Literatur zu finden, die sich mit Pädagogik unter dem Einfluss des „informellen Kolonialismus“ im Kontext des globalen Südens beschäftigt, wie etwa im Nahen Osten oder in Lateinamerika.

Eine der wichtigsten Personen, „mit denen zu denken ist“, ist der aus einer lateinamerikanischen Perspektive schreibende Paulo Freire (1921–1997). Seine Ausführungen zum Kolonialismus und zur Abhängigkeit fordern die Rolle der katholischen Kirche heraus, indem Freire eine „prophetische Kirche“ ausruft, die Gustavo Gutierrez zufolge die Armen begünstigt.

Er unterstreicht den Kontrast zwischen dem, was Cornell West die „konstantinische Kirche“ (die „Imperiale Kirche“) nennt, und der basisorientierten „prophetischen Kirche“, die in der Befreiungstheologie gründet. Letztere ist dezidiert dekolonisierend und entstand in Räumen, die am stärksten kolonisiert waren und die sich unter dem Einfluss der Supermacht USA und multinationaler Konzerne von direkten zu informell kolonisierten Gebieten entwickelt haben.

Abhängigkeit muss in diesem Kontext analysiert werden als Abhängigkeit der lateinamerikanischen Länder vom internationalen Kapitalismus multinationaler Konzerne, wie von Fernando Henrique Cardoso, dem späteren Präsidenten Brasiliens, und Enzo Faletto vorgeschlagen (Cardoso/Faletto 1979).

An diese Diskussion zu Religion und religiösen Bewegungen schließt Gramsci an, wenn er die Rolle des frühen Christentums als historisch bedingte progressive Entwicklung reflektiert, die den Status quo infrage stellte und schließlich dazu beitrug, die hegemonialen Beziehungen innerhalb des Römischen Reiches zu transformieren.

Es forderte den römischen Imperialismus in vielerlei Hinsicht heraus, bis er schließlich in diese Herrschaft eingegliedert und von Konstantin zur offiziellen Religion des Römischen Reiches erklärt wurde. Die konstantinische Kirche des Imperiums steht also der subalternen, prophetischen Kirche gegenüber, die im Untergrund organisiert ist.

Ihr wichtigstes Charakteristikum ist der Versuch, sich von den Zentren der Macht zu lösen; ihre dekolonisierende Theologie basiert auf einem Glauben, der zu einer befreienden Praxis wird, wie es in den Worten von Leonardo und Clodovis Boff (Boff/Boff 1987) widerhallt.

Jeder Prozess der Dekolonisierung, sei es in der Religion oder in kulturellen und ökonomischen Bereichen, besteht darin, „den Verstand zu dekolonisieren“. Das ist die Schlüsselaufgabe einer jeden genuin kritischen Pädagogik. Der erste Schritt in diese Richtung ist ein Verstehen in dem Sinne, dass die Art der Unterdrückung und die Funktionsweise der Ideologie so verglichen werden, dass sie die Menschen zu Kompliz:innen an ihrer eigenen Unterdrückung und der Unterdrückung anderer machen.

Die Unterdrückten haben das Bild der Unterdrücker internalisiert (Freire 1970, S. 30), was sie daran hindert, zur Auflösung der dialektischen Beziehung zwischen Unterdrückenden und Unterdrückten beizutragen. In dieser Situation spiegelt sich Hegels Herr-Knecht-Dialektik wider.

Aus einer gramscianischen Perspektive lässt sich diese Figur mit dem Konzept der Hegemonie verbinden, welches zwar selbst sein zentrales Master-Konzept ist, aber nicht allein von ihm entwickelt wurde. Bereits zuvor wurde es von vielen anderen verwendet und leitet sich vom altgriechischen Wort hēgemṓn (ἡγεμών) ab, was so viel heißt wie Anführer, Führer oder Stadtstaat, der einen anderen dominiert.

Hegemonie bedeutet im Sinne Gramscis politische Führung und (An-)Leitung durch eine herrschende Klasse: Ein bestimmter Zustand wird durch Ideen und Verhaltensweisen zementiert und bedingt, die bestimmte dominante Gruppen unterstützen. Diese Gruppen legen die Maßstäbe fest, nach denen alle anderen streben. Einige stimmen diesem Umstand sogar zu, ohne dass sie in irgendeiner Weise an die hegemonialen Vorstellungen glauben; Menschen können Hegemonie mittragen, auch wenn sie nicht an sie glauben.

Gramsci schreibt, dass sich die Bauern und Bäuerinnen im Mezzogiorno, den südlichen Regionen und Inseln Italiens, Priestern gegenüber zynisch verhielten, weil diese ihnen nicht als Inbegriff der Tugendhaftigkeit galten (anders als im Norden Italiens). …

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