Vor ein paar Jahren war ich auf ein Buch von Ernest Bornemann gestoßen, und die knappe Erinnerung an den Namen (als Sexualwissenschaftler) wurde plötzlich durch eine ganze Menge dichter Informationen ergänzt: Mit 16 hatte der Berliner Junge, im Sozialistischen Schülerbund organisiert, unter der Anleitung von Wilhelm Reich im Projekt Sexpol Beratung für Gleichaltrige zu Sexualität (Masturbation bis Schwangerschaftsverhütung und Geschlechtskrankheiten) erlernt, mit 18 war er schon auf der Flucht nach London.
Im Exil zwischen Hunger und Wohngemeinschaften, Beziehungen und Migrantengruppen, lernte er Jazz und afrikanische Oppositionelle, neue Filmmethoden und Englisch, Anthropologische Forschung und kurz darauf Psychotherapie intensiv kennen, …
Seine knappe Abrechnung mit den linken Parteien und Gewerkschaften zur Weimarer Zeit war mir eine Erleuchtung, seine Sammlung von Kinderreimen in der vorpubertären Zeit, nach der wir alles Frühere vergessen, eine höchst spannende Kulturforschung. Sein Buch: Ur-Szenen, Eine Selbstanalyse. S.Fischer Verlag FFm 1977
(Ur-Szene nennen die Psychoanalytiker den Moment, in dem ein Kind begreift, nicht das einzig geliebte Objekt der Mutter zu sein, die Liebe und den elterlichen Sex als Ausschluss begreifen muss.)
„Der wichtigste Einfluss auf meine jungen Jahre war der des Psychoanalytikers Wilhelm Reich. Ich lernte ihn im Januar 1931 in Berlin kennen, als er 33 und ich 16 war. Im September 1929 war er von einer langen Studienreise durch die Sowjetunion nach Berlin gekommen und der gleichen KPD-Zelle beigetreten, der auch Arthur Koestler angehörte. Im November 1930 sprach er vor einer Gruppe sozialistischer Ärzte über sowjetische Erfahrungen bei der prophylaktischen Neurosentherapie. Von diesem Vortrag erzählte mir Max Hodann, der Freund unseres Hausarztes, und dies war das erste Mal, dass ich den Namen Wilhelm Reich hörte.
Als Reich im Januar 1931 mit einer Vortragsreihe an der Marxistischen Arbeiterschule begann, ging ich hin, war beeindruckt und blieb sein Schüler, Im Juni 1931 gründete er den Reichsverband für proletarische Sexualpolitik, dessen jüngstes Mitglied ich wurde. Von der KP wurden wir „die Reichwehr“ genannt. Offiziell begann die Arbeit des Verbandes im Herbst 1931, aber die ersten Arbeitersexualkliniken entstanden bereits im Sommer des Jahres. Die Anzahl der Arbeiterkinder und Jungarbeiter, die diese Kliniken von Anfang an besuchten, war für uns alle verblüffend, denn die Mediziner und Politiker in der Berliner KP hatten der Sache so gut wie keine Hoffnung gegeben. Reichs Erfolg beruhte unter anderem darauf, daß er uns alle, die ihm von der MASCH in den Verband gefolgt waren, sofort zur praktischen Arbeit heranzog. Ehe ich nur halbwegs mit der Schule fertig war, befand ich mich also in der dubiosen Position eines Psychotherapeuten.
An zwei Nachmittagen, ich glaube es war Dienstag und Donnerstag, pilgerte ich zu der Klinik und empfing, nachdem Reich und seine Assistenten mir das erklärt hatten, Patienten meines eigenen Alters, die Sexualprobleme hatten. Das waren fast ausnahmslos die folgenden vier: Empfängnisverhütung, Masturbation, Geschlechtskrankheit oder Abtreibung. Mit der ihm eigenen Autorität (nie habe ich einen »Anti-Autoritäreren erlebt, der so eisern auf seine Autorität bestand) hatte er mir und den anderen Jugendhelfern eingebleut, daß wir in den letzten beiden Fällen nie irgend etwas sagen durften, sondern die Patienten zu ihm und den anderen Ärzten schicken mußten. Über die Masturbation und Empfängnisverhütung dagegen durften wir frei und unüberwacht die Lektionen weitergeben, die Reich und seine Kollegen uns eingeprägt hatten
Wir besaßen Berge von Fromms·Akt-Präservativen, die wir gratis verteilen durften. Es gab Vaginalgelee für die Mädchen, aber Pessare durften selbst meine weiblichen Kolleginnen nicht an unsere Altersgenossinnen verteilen, weil sie von Ärzten oder Ärztinnen eingepaßt werden mußten. Greifenberg-Spiralen waren bereits erfunden, aber Reich glaubte nicht an sie, weil sie herausrutschen konnten. Über Masturbation sollten wir sagen, daß wir es selber taten, daß Reich es in seiner Jugend getan habe und daß es nicht schaden könne, wenn es nicht zum Ersatz für den Geschlechtsverkehr werde. Es ist wichtig, hier festzuhalten, daß Reich emphatisch mit Freuds Ansicht übereinstimmte, habituelle Masturbation verderbe den Charakter, weil sie den Masturbator daran gewöhne, seine Ziele mühelos, auf bequemem Wege, anstatt durch energische Kraftanstrengungen zu erreichen. »Wer sich ans Masturbieren gewöhne, pflegte er zu sagen, »erwartet auch, daß ihm die gebratenen Tauben in die Schnauze fliegen.
Zweitens teilte er Freuds Überzeugung, daß Masturbation das Sexualobjekt in der Phantasie zu einer Attraktivität erhebt, die es in der Realität nie haben kann. Resultat: stetige Enttäuschung bei der Partnerwahl und der Sexualbefriedigung. Beide Ansichten habe auch ich übernommen. Deshalb bis zum heutigen Tage mein extremer Zweifel an jeglicher Therapie, die dem Patienten keine aktive Mitarbeit, keine Willenskraft abverlangt. Das Geschlechtsleben ist eine Schule des Gesellschaftslebens. Wer nicht in der Lage ist, sich einen adäquaten, konsanguinen Geschlechtspartner zu erwerben, wird auch nicht in der Lage sein, sich im Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung zu wehren. Wer meint, die Heilung sei Aufgabe des Arztes, der wird auch meinen, die Befreiung sei Aufgabe der Politiker,.
Bei dieser Gelegenheit will ich noch einmal den Dank aussprechen, den eine ganze Generation von Arbeiterkindern dem alten Wilhelm Reich schuldet. …“ (Bornemann, Ur-Szene S. 22-24)
Ganz gewiß hätte sich meine politische Bildung anders vollzogen, wenn ich nicht meine ganze Kindheit hindurch das Nonplusultra der politischen Wirkungslosigkeit in der Modellfigur meines Vaters vor Augen gehabt hätte. Er war, er ist „Demokrat“. Das heißt: er ist gar nichts. Er geht zur Wahlurne, wenn er dazu aufgerufen wird, und wählt FDP, wie er zu Zeiten der Weimarer Republik die Deutsche Demokratische Partei gewählt hat. Ich erinnere mich an folgendes Gespräch aus der Zeit, in der Stresemanns Deutsche Volkspartei der DDP das Wasser abzugraben begann:
»Vater, was ist Demokratie?
»Volksherrschaft.<
»Wie herrscht das Volk?
»Durch die Abgeordneten im Reichstag.
»Wie beherrschst du deinen Abgeordneten?
»Ich kann ihm schreiben.
»Wenn du ihm jeden Tag schreibst, was er machen soll, und wenn alle anderen ihm jeden Tag schreiben, was er für sie machen soll, und wenn er all die Briefe jeden Tag beantwortet, wieviel Zeit bleibt ihm dann für den Reichstag übrig?
»Wahrscheinlich gar keine.
»Und das ist Demokratie?
»Jungchen, es geht ums Prinzip.
»Um welches Prinzip?
»Ums Prinzip der Demokratie.
»Aber das Prinzip klappt nicht?
»Es klappt weniger schlecht als manche anderen. Mun muß sich damit abfinden.
»Womit?
»Mit der Welt, wie sie ist. Du und ich, wir werden sie nicht ändern. Nicht mit Gewalt jedenfalls.
»Wieso nicht?
»Weil das gegen die Demokratie verstößt.<
Ich war acht Jahre alt, das Jahr war 1923 und wir befanden uns auf einem Nachmittagsspaziergang im Lietzenseepark. Die Engländer hatten Singapur besetzt, die Italiener Korfu, litauische Freischärler das Memelland. französische Truppen das Ruhrgebiet. Reichskanzler Cuno hatte „passiven Widerstand“ verordnet, im August trat er zurück.
Albert Leo Schlageter war wegen Spionage von den Franzosen erschossen worden. Im Rheinland hatte sich eine Separatistenpartei gebildet, eine Rhein-Republik sollte ausgerufen werden. In Speyer wurde ein autonomer Pfalzstaat gegründet. Die Reichsregierung setzte die gewählte Regierung Sachsens mit militärischer Gewalt ab, weil sie ihr zu links war. Arbeiteraufstände in Thüringen und Hamburg wurden von Reichswehr und Polizei blutig niedergeschlagen. Hitler und Ludendorff putschten in Munchen. Fememorde der Schwarzen Reichswehr in ganz Deutschland. Aufstand in Spanisch·Marokko. Staatsstreich Primo de Riveras in Spanien. Der bulgarische Ministerpräsident von meuternden Offizieren ermordet, 1,25 Millionen Griechen aus der Türkei ausgesiedelt, Höhepunkt der Inflation in Berlin. 1 Dollar = 4,2 Billionen Mark. Notgeld in allen Städten und Landkreisen der Weimarer Republik, Und mein Vater wandelt mit seinem Sohne im herbstlichen Park und spricht von Demokratie.
Diktum meines Vaters 1932, ein Jahr vor Hitlers Machtergreifung (NSDAP: 13 745 800 Stimmen; SPD: 7 959 700. DDP, die Partei meines Vaters, die sich 1930 in Deutsche Staatspartei umgetauft hat, tritt gar nicht erst zur Wahl an): „Ich würde gegen eine Diktatur selbst dann kämpfen, wenn sie meine eigene Meinung diktierte.“ Das klang gut. Ich habe es nie vergessen. Aber wo blieben die, die so dachten wie mein Vater, und das waren nicht wenige, in den kommenden dreizehn Jahren? Sie gingen in die „innere Emigration“. Das war ihr „Kampf“. Bornemann: Ur-Szene S. 49ff
**Gestalttherapie: Fritz Perls‘ Theatererfahrungen (Bernd Bocian)**
**Fritz Perls in Berlin 1893 – 1933 (Bernd Bocian)**
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